Beziehungsweise

Der „schöne Knabe“ ist ein durchgängiges Motiv der Literatur, bei einigen Autoren und Autorinnen fällt auf, dass es häufiger begegnet. Nicht nur ein üblicher literarischer topos scheint sich dahinter zu verbergen, sondern auch die Verarbeitung wirklicher Begegnungen und Beziehungen.

In einem Aufsatz anlässlich des 100. Geburtstages von Thomas Mann nannte Jean Améry auch verschiedene andere Knaben- und Jünglingsgestalten des Dichters: Felix Krull natürlich, den jungen Joseph, „hübsch und schön mit der Nacht seiner Augen und seines Mundes verderblicher Wonne“; den Knaben Hanno Buddenbrook und seinen Freund, den „lieblich verwilderten Grafen Kai von Mölln“, den kleinen Johnny Bishop mit seiner unverletzlichen Eleganz, „die ihn nicht verlässt, wenn er kühl zusieht, wie Jappe und Do Escobar sich prügeln“ (Bergwanderung. Noch ein Wort zur Thomas Mann, 1975). Man kann die Reihe fortführen mit dem blonden Hans Hansen und seinem Freund Tonio Kröger; mit Jung Wiligis, dem „schönsten Fünfzehnjährigen, den man sich denken kann“; mit dem kleinen Herrn Friedemann, nicht schön und doch beinahe schön zu nennen; mit dem Wunderkind Bibi Saccellaphylaccas, zu dessen Schönheit auch ein wenig Lüge gehört …

In verschiedenen biographischen Bezügen stehen manche von ihnen zu Thomas Mann. Einem schönen polnischen Knaben im Hotel am Lido ist er 1911 tatsächlich begegnet und hat sich von ihm auch ein wenig verzaubern lassen, wie es seine Frau Katia bestätigte – ähnlich, wenngleich auch nicht so intensiv wie der Schriftsteller Aschenbach in „Der Tod in Venedig“.

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Nina K Brisley, A terrible Problem

Das Vorbild für den kleinen Nepomuk Schneidewein in „Doktor Faustus“ (1947) war sein Lieblingsenkel Frido.  Über Seiten hinweg beschreibt er die „zierliche Vollendung der kleinen Gestalt“ , die einen Eindruck von „Märchen, von Besuch aus niedlicher Klein- und Feenwelt hervorrief“. So wenn der Kleine, im Garten sitzend, ein Bilderbuch betrachtet: „Er hielt es auf den Knieen mit der Rechten am Rande. Das linke Ärmchen und Händchen aber, womit der das Blatt gewendet hatte, verharrten, die Bewegung des Umblätterns unbewußt festhaltend, in unglaublich graziöser Gebarung, das Händchen geöffnet, seitwärts vom Buch in der Luft, sodaß mir war, als hätte ich nie ein Kind so reizend dasitzen sehen … und bei mir dachte, auf diese Manier müßten die Englein droben die Seiten ihrer Hallelujabücher wenden.“ Unvermittelt lässt ihn Thomas Mann auf furchtbare Weise sterben, eine bis heute „verletzende literarische Verewigung“ (Frido Mann, Achterbahn, 2008).

In dem sensiblen und musisch veranlagten Hanno Buddenbrook „mit seinen langen, braunen Wimpern und seinen goldbraunen Augen“ hat er auch sich und seine Kindheit  gezeichnet. Ein wenig „fremdartig unter den hellblonden und stahlblauäugigen, skandinavischen Typen seiner Kameraden“ sticht Hanno hervor – ganz ähnlich wie Tonio Kröger, der in der gleichnamigen Novelle seinen bastschopfblonden Freund Hans Hansen anhimmelt. In dem hat Mann einer frühen Freundschaft aus seiner Lübecker Zeit ein Denkmal gesetzt: Armin Martens, ein hübscher Junge mit blauen Augen, blonden Haaren und einem bezaubernden Lächeln, der auf den damals Vierzehnjährigen einen ungemeinen Reiz ausübte. Wenige Monate vor seinem Tod bekannte er in einem Brief: „Den habe ich geliebt – er war tatsächlich meine erste Liebe, und eine zartere, seligschmerzlichere war mir nie wieder beschieden. So etwas vergißt sich nicht, und gingen 70 inhaltsvolle Jahre darüber hin.“

Der Schriftsteller Ernst Penzoldt hatte eine ähnlich prägende Freundschaft – er war allerdings schon zwanzig, als er auf der Kunstakademie Günther Stolle kennen lernte, „einen wahrhaft poetischen Menschen … dessen Freundschaft damals vielleicht entscheidender war als irgend etwas sonst … Ich modellierte ihn, und meine Hände behielten die Erinnerung seines Angesichts bis heute. “ (Ernst Penzoldt, Über mich selbst, 1929). Nicht nur Plastiken, auch Gedichte und Prosa widmete er dem Freund, den er „Hermion“ nannte: „Seine Gestalt hatte immer etwas Wehendes, so von fallenden Haarsträhnen, bewegten Händen und wedelnden Schuhbändern, als blase ein Engel ihn an.“ Er fiel im Ersten Weltkrieg.

In vielen der Jünglings- und Knabengestalten von Penzoldts Erzählungen und Romanen mag man Reminiszenzen  sehen. In dem jungen „Squirrel“ etwa aus gleichnamiger Erzählung (1954) – oder auch in dem diesem seelenverwandten Schornsteinfegerlehrling Fritz Fliege, den der junge Clemens in der Erzählung „Kleiner Erdenwurm“ (1934) bewundert, auch weil er einer bestimmten griechischen Skulptur glich; am liebsten hätte er gern selbst so ausgesehen: „nämlich wie jeder untadelig-schöne Ephebe, dessen marmornem Bildnis im Akropolis-Museum eine verliebte Wissenschaft den Kosenamen Blondkopf gegeben hat“ (Kleiner Erdenwurm). Ernst Penzoldt schuf auch eigene Skulpturen in Anlehnung an diese antiken Epheben, und in einer Schrift zur Entstehungsgeschichte seiner Erzählung „Idolino“ (1935), die einen außergewöhnlich schönen Jungen beschreibt, bekannte er, dass er hier erstmals versucht habe, „aus der Doppeleigenschaft als Bildhauer und Schriftsteller Einblick in das Wesen des Schönen zu gewinnen und darzustellen“. Hermann Hesse, der die Erzählung in der NZZ besprach, schrieb von der „Hingabe an das Schöne schlechthin“. Ein häufig von Penzoldt verwendetes Pseudonym war „Fritz Fliege“, in dem er sich sozusagen mit diesem Idol aus dem „Kleinen Erdenwurm“ identifizieren konnte.

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Pierre Troubetskoy, Portrait of John Aspinwall Roosevelt

In einer seiner frühen Erzählungen, „Albrecht und Gabriel“ (1923), wartet der vierzehnjährige Albrecht auf die Ankunft eines Jungen, den sein Vater „wegen der Abgelegenheit des Landsitzes von Stadt, Dorf und gemäßer Jugend als Gespiele und Gefährten“ eingeladen hatte. Endlich kommt er, sieht aber ganz anders aus, als sich Albrecht ihn geträumt hatte: „Er trug eine Art Matrosenanzug mit weiten, langen Hosen, die schmale Knöchel freiließen. Sein blondes Haar war verweht. […] Er erwachte von den Augen Gabriels, die ihn still anblickten. „Du hast im Schlaf meinen Namen gesagt,“ sagte Gabriel im Kinderton des Erwachenden. Albrecht lächelte zwischen Traum und Wachen. Er strich sich die Haare aus der Stirne und seine Augen ruhten mit Wohlgefallen auf dem Gefährten.“

Ernst Penzoldt, der überaus liebenswürdige und vielseitige Künstler, starb 1955, einige Monate vor Thomas Mann, der über ihn bewegende Worte fand und daran erinnerte, dass Penzoldt auch das Leid und den Schmerz ausdrücken konnte, weil er sie selbst durchlitten hatte als Sanitäter in zwei Weltkriegen. In seiner Erzählung Zugänge“ (1947)  kommt dies zum Ausdruck. Vielleicht fand er auch deshalb so gern zum Schönen: Man sollte sich jeden Tag einmal verlieben, in einen Menschen, einen schönen Baum, in eine Farbe oder die Anmut einer Katze. Ich wenigstens tue das und fühle mich wohl dabei.“ 

Auch im Werk des im Oktober 1866 geborenen Heinrich Federer kommen immer wieder schöne Jungen vor, und hier gibt es ebenfalls biographische Hintergründe, die in einer Beziehung zu sehen sind, allerdings – anders als bei Thomas Mann und Ernst Penzoldt – einer ungleich problematischeren. Der Priester und Journalist wurde 1902 auf der Talstation der Stanserhornbahn in Nidwalden festgenommen, weil der Verdacht bestand, dass er sich an einem Zwölfjährigen vergangen habe, für den er eine Art Hauslehrer war und mit dem er ein paar Ferientage verbrachte. Der Junge, Emil Brunner, stammte aus gutbürgerlichem Haus; sein Vater war 53, als er geboren wurde, seine Mutter 30. „Er entwickelte sich zu einem verwöhnten, herrischen Knaben. So lernte ihn Heinrich Federer kennen. Er verliebte sich bis über die Ohren in ihn und verfiel in eine Art Sklavenrolle, so dass er sich der Befehle des Kindes kaum mehr erwehren konnte“ (Iso Bauer, Der Fall Federer, in: SKZ 37/2002). Was sich genau abspielte, lässt sich wohl nicht mehr genau erudieren – Federer wurde zunächst verurteilt, in zweiter Instanz dann freigesprochen.

Emil Brunner war aber nicht Federers einzige Beziehung. In seinen Jugenderinnerungen „Am Fenster“ (1927) beschriebt er eine Situation, in der er als Zwölfjähriger am Brienzer See eine vornehme deutsche Familie mit ihrem hochmütigen und gelangweilten vierzehnjährigen Sohn Dietrich kennen lernt, der ihn abstößt und fasziniert zugleich:

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Ilja Repin, Porträt eines Jungen

Er hielt eine Lederpeitsche in der linken Hand. Jede seiner Bewegungen kam mir wie Musik vor, ja, sein ganzer schmaler Knabenkörper war ein Gesang. Obwohl ich mich dennoch sofort unweigerlich irgendwie von ihm abgestossen fühlte, konnte ich dennoch fast nicht von diesem leise geröteten, goldbeflaumten Antlitz wegsehen, eine solche seltsame Schönheit lag darin. […] Ich, der so gar nicht gewöhnt war, auf die Schönheit der Menschen zu achten, glaubte bei dieser wundersamen Bildung von Gesicht und Gestalt eine jener Visionen zu sehen, die mein Vater ab und zu in jähen Momenten als Engels- oder Satansschönheiten ins Skizzenbuch hingeworfen hatte.

Dieser „Prinz“, wie ihn der kleine Heinrich für sich nennt, verlangt von ihm, dass er ihn auf dem See rudere, was er auch tut. Auch jetzt fühlt er sich seltsam von dem „hübschen Satanskerl“ angezogen, obwohl der ihn wie einen Knecht behandelt, ihm mit der Peitsche droht und ihn „Tropf“ und „Sklave“ nennt. Ohne dies ausdrücken zu können, ist er verliebt in diesen etwas älteren Jungen. Am nächsten Tag machen sie eine Bergwanderung auf den Rothorn. Wieder kommt es zu herrischen Ausbrüchen des „Prinzen“, aber am Ende kehren sie als Freunde zurück. Tags darauf war die Familie abgereist. „Dachte ich an jene zwei Tage, so geschah es, wie man an etwas Unwirkliches, an einen Traum denkt. Ich wusste ja auch nichts als den Namen Dietrich, und er wusste nichts als den Namen Heinrich. Nie hörten wir mehr voneinander.

Nach Pirmin Meier, der sich intensiv mit dem Leben Federers befasst hat, eine Projektion zurück, denn die Beziehung zu einem „anderen Götterknaben“ (Meier) namens Dietrich gab es tatsächlich – Hans-Dietrich zu Bülow, den Federer 1911 in St. Moritz als damals Vierzehnjährigen kennen lernte, „den abgefeimtesten Despoten seit Emil“ (Meier). Um diese Beziehung beschreiben zu können, habe sich Federer mehr als 30 Jahre jünger gemacht … Es war allerdings eine einseitige Beziehung, auch wenn Federer später zahlreiche Briefe an den „lieben Herrn und Freund“ schrieb. Überhaupt hütete sich Federer seit 1902, seinen Lieblingen zu nahe zu kommen. Er hat sie literarisch verewigt, konnte ihnen in so vor allem im Anschauen nahe kommen. „Immer wieder musste ich verstohlen zu ihm aufblicken und denken, so etwas Schönes habe unser Herrgott gewiss nur einmal gemacht und dabei all seine Meisterschaft zusammengenommen“ (aus: Am Fenster). Typisch auch, dass Federer sich in seinen Jugenderinnerungen in der Begegnung mit jenem Dietrich jünger gemacht hat – er fühlte im Zusammensein mit den Buben gewissermaßen selbst jung. Ihn und auch Emil hat er mehrfach porträtiert – vielleicht auch in dem Ratsherrenbub Friedel Herri, jenem „fiebrigschönen Burschen“ aus der Erzählung Das Mätteliseppi“ (1916), in den sein Mitschüler Alois Spichtiger – das Konterfei Federers – geradezu verliebt ist.

„Blitz und Hagel, dann muß er mich malen. Ich hab’ oft aus Narretei über ihn gelacht und gelogen. Ich sag’ dir, warum.“ Der fiebrigschöne Bursche hielt den Mund, als müsse er’s sogar vor dem stillen Abend ringsum geheim halten, an Aloisens Ohr und, indem er den Duft von Most und Wildheit und süßester, unschuldigster Knabenhaftigkeit über den andern staunenden Knaben ergoß, flüsterte er mit seinem Lispel-S: „Sag’ es aber sauber keinem! Sonst! Weißt, ich darf gar nicht mehr zur Mutter in die Kammer. Ich rumple zu stark, sei zu grob, mach’ ihr Fieber, heißt es. Und doch hat die Mutter Heimweh nach mir. Wenn sie nun aber mein Bild hätte, mein Gesicht exakt so groß es ist, mit dem Strubel und den Flügelohren … weißt! … gerade so wie ich bin, hallo, da wäre ich doch bei ihr, und vielleicht würde sie schneller gesund. Denn sie säh mich oft an und tät denken: ‚Aber, aber, der wilde Bub. Wie hat er doch ein verstrupftes Haar. Niemand strählt es ihm. Da muß ich doch pressieren mit Gesundwerden, daß ich ihm den Schopf glatt streichen kann.‘ Weißt, Mutter meint, wenn ich das Haar glatt habe, sei auch alles andere glatt, ich würd’ zahm wie ein Kaninchen. Denk’! wie lustig!“ Indem er das sagte, strich er seinen Strubel an Aloisens wohlgekämmtem und hübsch gescheiteltem Kopf hin und her wie ein Ziegenböcklein.

SingendeEngel

Sandro Botticelli, Maria mit Kind und singenden Engeln (1477 – Ausschnitt)

Den Alois rührte das Gehörte über die Maßen. Er atmete so nahe nicht nur die Schönheit des Kameraden, sondern auch seinen alten stolzen Namen, seinen Reichtum, sein Glück ein. Es übernahm ihn völlig. Wie liebte er doch den Herri! Zärtlich drückte er seine rauhe Hand, die ihm über die Achsel fiel, an die Wange und streichelte sie als etwas Kostbares. Das erste starke Lenzlüftchen der Jugendfreundschaft blies in seine Seele und brachte sein Knabenblut in Gärung.

Thomas Mann, Ernst Penzoldt und Heinrich Federer – drei Beispiele für die „literarische Produktivität des Tabus“, wie der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering sein Buch „Das offene Geheimnis“ (2002) untertitelte, ja sogar des Tabubruchs. Interessant und doch müßig, dem nachzugehen, wo das noch im Falle des „schönen Knaben“ literarisch eine Rolle gespielt haben mag. Wem wäre damit gedient.

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