Bücher

Elisabeth Louise Vigée Le Brun, Enfant lisant

Im Zimmer des Kindes war Licht – natürlich, Foncho las ja immer bis spät in die Nacht! Doña Lukrezia klopfte und trat ein: »Alfonsito!« Im gelblichen Lichtkegel der kleinen Nachttischlampe tauchte erschreckt ein kleines Engelsgesicht hinter einem Buch von Alexandre Dumas auf. Seine goldenen Locken waren zerwühlt, sein Mund stand halb offen von der Überraschung, so daß die doppelte Reihe schneeweißer Zähne sichtbar wurde, und die großen blauen, weit aufgerissenen Augen versuchten, sie aus dem Dunkel der Türschwelle zu lösen. Doña Lukrezia verharrte reglos und betrachtete ihn zärtlich. Was für ein hübsches Kind! (Mario Vargas Llosa, Lob der Stiefmutter – 2012)

Bücher und Kinder, lesende Knaben und Mädchen: In der Malerei kein seltenes Sujet, vielleicht auch, weil das Kind auf diese Weise auch eine ungezwungene Haltung einnahm, in der man es malen konnte.

Domingo Francesco, Niño leyendo

Zugleich drückte es in früheren Zeiten auch etwas Besonderes aus: Lesen war (und ist) eine geistige Fähigkeit, hebt also die dargestellte Person heraus. Als Ausdruck der Bildung und eines gehobeneren Standes darf das Buch als Attribut auch auf manchen älteren Bildern nicht fehlen – dem schönen Äußeren entsprechen offenbar die geistigen Werte des Dargestellten … Auch in der Literatur begegnen immer wieder lesende Kinder, denen die Bücher im wahrsten Sine des Wortes gut zu Gesicht stehen, wie in Mario Vargas Llosas „Lob der Stiefmutter“ dem kleinen Alfonsito.

John Everett Millais, Portrait of Charles Liddel

Einen „pikanten Kontrast“ bilden in Hans von Kahlenbergs Roman „Die Jungen“ nicht nur die zwei Brüder, die darin beschrieben werden, sondern auch die Vergeistigung des jüngeren zu seiner körperlichen Eingeschränktheit; sie kommt gerade auch in seinem  Lesen und Vorlesen zum Ausdruck: Der Jüngere, Otto Güthli, war ein fast engelhaft schöner Knabe von 13 Jahren, blondlockig, strahlenäugig mit einem feinen, vergeistigten Johannesgesicht, leider gelähmt von Jugend auf. Er konnte sich nur sehr mühsam an Krücken bewegen. Meistens saß er in einem Rollstuhl, den der ältere Bruder ihm jeden Morgen in die Sonne schob, am Fenster oder wenn es warm genug war, im Hofe. Da saß er dann, lesend, sich an jedem Sonnenstrahl freuend, die kleinen Kinder um sich lockend, denen er Märchen und Geschichten erzählte, immer mit irgend einer lieblichen, schwärmerischen Pointe, in der die Unschuld triumphirte  der Unterdrückte zu seinem Rechte kam. (Hans von Kahlenberg, Die Jungen – 1901).

Tilhamer von Margitay, Spannende Geschichte

So kann auch ein lesender Naturbub den Betrachter in Erstaunen setzen, wie es Eduard Engel anlässlich einer Griechenlandreise beschreibt:

Ralph Hedley, boy reading

Beim Feuerglanz der Spätnachmittagsonne lese ich unter den rauschenden Zypressen des zierlichen Klosters die Gesänge V bis VIII der Odyssee. Der Barkenführer hat mir nur seinen zehnjährigen Buben, einen Ausbund südlicher Knabenschönheit, mitgegeben, und das reizende nacktbeinige Kerlchen setzt sich unverfroren neben mich auf die Steine des Uferdammes und schickt sich an, auf die Fischjagd zu gehen. […] Da er genug hat zum Abendessen für seine ganze Familie, setzt er sich wieder neben mich und guckt mir ins Buch. „Ich kann auch lesen.“ – „So? dann lies einmal hier.“ – Der Knabe liest mir aus der Odyssee die Verse griechisch vor. (Eduard Engel, Griechische Frühlingstage – 1887)

Das ganz in ein Buch versunkene Kind ist ein Bild besonderer Anmut, weil es Selbstvergessenheit ausdrückt, keinerlei Kokettiererei. Thomas Mann zeichnete ein solches Kind in dem kleinen Nepomuk Schneidewein, zu dem sein Lieblingsenkel Frido Mann das Vorbild gab. Dessen kindliche Anmut kann man auf den alten Bildern, die ihn mit seinem Großvater zeigen, gut erkennen.

„A terrible Problem“ (1921)

Adrian zeigte ihn mir von der Hausecke aus, wie er ganz allein im rückwärdigen Nutzgarten am Boden saß, zwischen Erdbeer- und Gemüsebeeten, ein Beinchen ausgestreckt, das andere halb hochgezogen, die geteilten Strähnen des Haars in der Stirn, und, wie es schien, mit etwas distanziertem Wohlgefallen ein Bilderbuch betrachtete, das ihm der Oheim geschenkt hatte. Er hielt es auf den Knieen mit der Rechten am Rande. Das linke Ärmchen und Händchen aber, womit der das Blatt gewendet hatte, verharrten, die Bewegung des Umblätterns unbewußt festhaltend, in unglaublich graziöser Gebarung, das Händchen geöffnet, seitwärts vom Buch in der Luft, sodaß mir war, als hätte ich nie ein Kind so reizend dasitzen sehen … und bei mir dachte, auf diese Manier müßten die Englein droben die Seiten ihrer Hallelujabücher wenden. (Thomas Mann, Doktor Faustus – 1947)

So gibt eben das lesende Kind, das ganz in sein Buch vertieft ist, die Gelegenheit, es in aller Ruhe betrachten zu können und sich daran zu erfreuen:

Guercino (Barbieri, Giovanni Francesco), ragazzo di lettura

Benjamin Herzberg war ein Nachgeborener. […] Benjamin war nicht nur das schönste, sondern auch das klügste Kind in der Familie — nein, in der Welt. Derartige Vorstellungen nisteten wohl im Herzen der Mutter. Und wenn sie in ihrer schlichten, bescheidenen Art auch von solchen Gedanken nichts laut werden ließ, so leuchtete ihr Auge doch auf, wenn sie den Knaben betrachtete, wie er über seinem Buche saß, den Kopf geneigt, um den die langen, blonden Locken herabfielen, glänzend wie gesponnenes Gold. Seine schlanken, geschmeidigen Bewegungen entzückten sie und verstohlen liebkoste sie die weiche, sammetartige Haut seiner hellen, rosigen Wangen. (Ulrich Frank, Beim Pariarchen – Die Toten – 1903)

Nicht nur das Lesen, auch das Schreiben ist ein Tun, das vom Kind ganze Hingabe verlangt und es deshalb anmutig escheinen lässt. Franz Gräffer hat einen solchen Buben genau beschrieben:

In einer Laube saß ein anmuthiger schlanker Knabe, goldgelockt, mit einem dunkelgrünen Baret bedeckt. Sein Teint war blaß, aber die vollen Wangen blühten. Das Kinn war etwas vorspringend; die Gestalt der Nase noch unentschieden; der graziöse rosige Mund klein und schwellend; das blaue Auge sinnend und belebt, wie stets von Empfindungen und Vorstellungen bewegt. Seine Kleidung als Morgenanzug bestand aus einer Art Bluse von blaugestreiftem Pikee, weißen Pantalons und hohen Schuhen. Den Hemdkragen hielt ein leichtgeschlungenes schwarzseidenes Tuch zusammen. Der Knabe saß auf einem grünangestrichenen Gartensofa, an einem kleinen Tisch von Nußbaumholz, auf welchem Schreibgeräthe lag, und ein Buch in vier dicken Bänden.

Der liebliche Knabe war mit Schreiben beschäftigt, das ihm etwas schwer anzukommen schien. Von Zeit zu Zeit stützte er das Haupt auf die linke Hand, augenscheinlich, um nachzudenken; jedoch rasch erhob er es und schrieb mit seiner feinen schlanken, malerisch edel geformten Hand schnell einige Worte nieder. Mehrere Mahle aber, wenn ihm das Betreffende nicht beyfallen wollte, langte er hastig nach einem der vier Bücher, schlug es auf und blätterte und suchte mit Eilfertigkeit, wobei durch die rasche Seitenbewegung des Kopfes das reich geringelte goldige Haar lustig umherschnellte. Das Mechanische des Schreibens selbst ging etwas langsam von Statten, wie bey allen Ungeübten, besonders wenn sie in einer fremden Sprache schreiben, die sie sich eben erst aneignen. Der junge Schreibende strich manche Wörter aus, andere an ihre Stelle setzend, nachdem er wiederhohlt in einem der Bände nachgeschlagen, oder für sich selbst nachgedacht hatte. Endlich schrieb er den Aufsatz in’s Reine. Er verweilte unverwandt bey seiner Arbeit, in der abgeschlossensten Sammlung, ohne auf irgend Etwas der nicht ganz unbewegten Umgebung zu achten; wie ein Mann. Er war ungefähr 11 Jahre alt. (Ein Autograph [Kleine Wiener Memoiren] – 1845)

Lesende Kinder, so ergaben englischen Langzeit-Studien über 70 Jahre, haben im Leben bessere berufliche Chancen. Und auch das Vorlesen bringt ihnen später eine Menge, was Wortschatz, Ausdrucksweise, Phantasie anbelangt. Es müssen auch nicht nur Kinder sein, denen vorgelesen wird, bisweilen drängt es sogar noch Jugendliche danach; Wolfgang Cordan beschreibt eine solche Szene:

Eines Tages sprach mich auf der Wiese hinter dem Schloss ein Knabe an. „Wollen Sie nicht mit mir George lesen?“ fragte er in leichtem Ton. […] Ausweichend antwortete ich: „Muss es denn gleich George sein?“ Nein das musste es nicht … Und so las ich an jenem Nachmittag unter einem der riesigen alten Bäume des Schlossparkes die Erscheinung der Helena aus dem zweiten Faust und, zum Vergleich, einige Helena-Verse von Roland Holst.

Rembrandt van Rijn, Sohn Titus (mit ca. 16 Jahren)

Cordan beschreibt, wie der Junge dabei auf einer dicken Baumwurzel saß, ihn unter seinem wilden Schopf prüfend ansah und  Bucheckern knabberte. Er hieß Johannes Piron, war siebzehn Jahre alt und von ungewöhnlicher Schönheit. Seine jüdischen und wallonischen Vorfahren hatten schließlich einen Typus hervorgebracht, der schwer zu klassifizieren war. Da Johannes in einer Musikpantomime den verzauberten Prinzen aus Andersens Schweinehirten gespielt hatte und dazu eine Art Russenbluse geschneidert, trug er von da an diese Blusen und zwar schwarze, weil sie ihm am besten standen. Bei besonderen Gelegenheiten trug er darüber ein Amulett, eine Silbermünze des Julian Apostata. Als er einmal so bei einem Essen in Sloterdijk vor dem rosa Damasttuch saß, waren wir alle von seiner Erscheinung getroffen. Er sah aus wie ein junger Conte der Renaissance. (Wolfgang Cordan, Die Matte – 2003) –  Johannes Piron blieb den Büchern und dem geschriebenen Wort treu; er wurde später ein bekannter Übersetzer und verfasste auch eigene Werke.

Der Schriftsteller Ernst Jünger notierte anlässlich eines Besuchs des Musee de l’Homme einmal in seinem Tagebuch, wie schön es sei, „dass man dort so häufig Knaben im Alter von zwölf bis sechzehn Jahren trifft“. An einem ähnlichen regen Geist kann man sich auch freuen, wenn man interessierte Kinder in einer Bibliothek oder einem Buchladen beobachtet:

Louis Boullogne, Enfant tenant un livre

Ich schlenderte hinunter nach der Seine, wo ich den Geruch von Teer und all das krause Durcheinander auf dem Fluß und an dem Quai entlang so liebe. Besonders zogen mich die Buchverkäufer immer wieder an, die dort in langen Reihen ihre Stände haben. Ich konnte stundenlang da stehen und ein Buch nach dem andern durch die Hände laufen lassen; denn wenn man die erforderliche Ausdauer besitzt, so findet man fast immer etwas, was sich lohnt, für wenige Franken mit nach Haus zu nehmen. Ich blieb auch jetzt wieder vor einem Stande hängen. Doch was mich diesmal festhielt, war ein etwa zwölfjähriger, dunkelhaariger, bildschöner Junge, der fast mit der Sachlichkeit eines Erwachsenen bei dem Verkäufer sich erkundigte, ob ihm einmal ein Buch, betitelt ,Magische Laterne‘, vorgekommen sei. Der Mann verneinte es und meinte dann zu mir gewendet: Als ob ich mir die Büchertitel alle merken sollte von dem Kram, der da herumliegt. Der Junge aber nach der abschlägigen Antwort blieb zwar vor dem Stand noch stehn wie unschlüssig, so schien es wenigstens, doch ich bemerkte, daß er mich dabei beobachtete. Natürlich tat ich so, als sähe ich es nicht und stöberte in dem umherliegenden Bücherwust weiter. (Alexander von Bernus, Die Blumen des Magiers – 1950)

Doch nochmals zurück zu dem eingangs beschriebenen Knaben, der in seinem Bett spät abends noch beim Lesen ertappt wird: Zwar mit Buch, aber  darüber eingeschlafen, findet in Albert von Trentinis Goethe-Roman der „Olympier“ den auch von ihm geliebten Buben Fritz der Charlotte von Stein:

Auf den Zehenspitzen, die Türklinke leise niederdrückend, trat er in der Stube ein. Wie Hammerwerk schlug ihm das Herz. Schritt für Schritt, vorgebeugt, schlich er im flackrigen Schein des Nachtlichts an das eiserne Bett. Der Bub schlief. Das weißrote Jungengesicht, fast verborgen im Walde der Locken, ruhte mit halbgeöffneten Lippen auf dem rechten Arm. Der linke lag, nur bis zum Ellbogen im Ärmel des Nachthemdes, auf der weißen wollenen Decke. Die eine Hand, ausgestreckt wie nach einer Frucht, die zu pflücken war, schaute zwischen Bett und Kissen hervor; die andere hielt mit eingeklemmtem Finger ein Buch. (Albert von Trentini, Goethe – 1923) – Eine wunderbare Art, in den Schlaf zu finden.

jean-Baptiste Greuze, Écolier endormi

 

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