Das „Knabenmädchending“

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George Laurence Nelson, The artist’s son

Ein immer wiederkehrender Topos ist in der Literatur der „Mädchenknabe“ – ein Junge, der zart wie ein Mädchen ist, wie ein Mädchen aussieht und womöglich auch als solches angesprochen wird – wie Christine Nöstlingers kleiner Franz, der mit „Grüß Gott, kleines Mädchen“ von der Gemüsefrau oder „Du bekommst noch Geld zurück, kleines Fräulein“, vom Kioskbesitzer angesprochen wird, „nur weil er blonde Ringellocken hat und Kornblumenaugen. Und einen Herzkirschenmund. Und rosarote Plusterbacken.“ So sehen halt nur hübsche kleine Mädchen aus, meinen die Leute (Christine Nöstlinger, Geschichten vom Franz).

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Thomas Lawrence, Charles Hope as bacchus

 

Ein solches, schwer als Mädchen oder Junge erkennbares Kind kommt häufig in der Literatur vor; in Fritz Schwieferts „Backchos Dionysos“ entscheidet sich Pentheus angesichts des mädchengesichtigen Dionysos, der vor ihn geführt wird, für die Anrede „Du Knabenmädchending“.

Auch das als Knabe verkleidete Mädchen ist ein gängiger Typus in der Literatur und gern gebrauchte Figur, die für Verwirrung sorgt, nicht erst seit „Gustav Adolfs Page“: In Conrad Ferdinand Meyers gleichnamiger Erzählung bewahrt die burschikose Gustel, „ein tannenschlankes Mädchen mit lustigen Augen, kurzgeschnittenen Haaren, knabenhaften Formen und ziemlich reitermäßigen Manieren“ ihren Cousin Anton davor, des Schwedenkönigs Page zu werden, was ein durchaus lebensgefährlicher Dienst ist, indem sie selbst, „bubenhaft“, wie sie aussieht und sich benimmt, in diese Rolle schlüpft. Auch in anderen Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts kommt das als Page verkleidete Mädchen vor – eine Möglichkeit ja immerhin, wie bei Conrad Ferdinand Meyer, dass sich das Mädchen dem geliebten Mann unauffällig nähern kann …

Carl Ludwig Friedrich Becker-PorträteinesKnaben

Carl Ludwig Friedrich Becke, Porträt eines Knaben

„Der schöne Knabe Erwin“ aus Joseph von Eichendorffs „Ahnung und Gegenwart“ ist ein anderes gutes Beispiel für einen solchen „Scheinknaben“, der in der Literatur verschiedentlich begegnet.

Auch Goethes „Mignon“ (Wilhelm Meisters Lehrjahre) repräsentiert dieses Changieren zwischen den Geschlechtern, ein Kind, das „seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein kurzes seidnes Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln, knappe lange Beinkleider mit Puffen, standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung an, und konnte nicht mit sich einig werden, ob er sie für einen Knaben oder für ein Mädchen erklären sollte.“

Die Erzählung „Pietro, der Schmuggler“ des Schweizer Schriftstellers Ernst Zahn  handelt von  einer Frau, deren Sohn Peter schon früh stirbt, worauf sie wegzieht. Bald schon bekommt sie erneut ein Kind – ein Mädchen, das allerdings von einem anderen Mann stammt, einem berühmt-berüchtigten Schmuggler. Sie nennt es nach dem ersten Kind Pietro und zieht es als Knaben auf, der/die dann als zarter und doch kühner „Mädchenbub“ bei den Schmugglern in den Bergen zwischen der Schweiz und Italien bekannt wird.

Jakob Christoph Heer, ebenfalls Schweizer , beschrieb die Anmut eines solchen in seinem großen Roman „Der König der Bernina“:

Als Jolande zwölfjährig wurde, verbreitete sich eine sonderbare Kunde – um so rascher, da fast alle Gäste die reizvolle Gestalt kannten. Als Knabe verkleidet, begleitete sie den Vater auf die Jagd. Und was zuerst nur Gerücht war, das bestätigten bald manche aus eigener Anschauung. Ja, den Leuten der Berge fiel es gar nicht besonders auf. Denn italienische Wildheuerinnen, die in Männerkleidern das Gras der Felsenplanken sicheln, gab es in den Grenzbergen von jeher, und es war nicht unerhört, sondern genugsam überliefert, daß Engadinerinnen schon früher in Männerkleidern zur Jagd in die Berge gegangen waren, wo die Mädchen- oder Frauenkleider nichts wert sind.

In Pontresina gewöhnten sich die Leute bald an sie oder an ihn, an Landolo, wie Markus Paltram seinen Jägerknaben nannte.

Hans Thoma, Bildnis eines Knaben

Hans Thoma, Bildnis eines Knaben

Wie der Vater ging er in Grau. Eine Mädchenart blieb dem feinkecken Burschen: er trug gern eine leuchtende Blume auf der Brust und errötete leicht wie ein Mädchen, auch erschien er für sein Alter etwas zu zart, aber das leichte Gewehr über dem Rücken, schritt er spannkräftig wie eine Gemse neben dem Vater. Doch so elastisch war Landolo nur, wenn er sich unbeobachtet wußte. Sobald die Neugier nach ihm sah, steifte und bäumte sich die Gestalt in verschwiegener Herbheit, in inniger Zurückhaltung. „Rührt nicht an mir!“ bat der flammende Blick, das Erröten, „nicht mit euern Augen, nicht mit euern Worten.“

Die Schweigsamkeit und der brennende Stolz wappneten die Gestalt. Ein Lächeln, ein Wort aber von Landolo – ein guter Blick der kirschdunklen Augen – man sagte, es gebe nichts Hinreißenderes im Gebirge. Und ein heißblütiger, leidenschaftlicher kleiner Jäger war Landolo. Markus Paltram hütete ihn wie seinen Augapfel, doch gab er Ludwig Georgy die Erlaubnis, ihn und den Knaben zu malen – eine Gefälligkeit, um die der Maler viele Jahre gerungen. Es wurde sein berühmtestes Gemälde und hat in den Ländern der Tiefe mehr dazu beigetragen, daß das Engadin bekannt wurde, als irgend eines seiner übrigen Bilder. „Der König der Bernina und sein Töchterlein!“

Es ist ein Gemälde voll Stimmungsgehalt. Im Hintergrunde leuchtet ein Stück blauen Roseggletschers und dämmern weiße Berge, im Mittelgrund ragen die Aeste einer Wetterarve in das Bild, im Vordergrund sitzt Markus Paltram in halbhohem Seidenhut, das Gewehr auf den Knieen, und blickt mit scharfem Adlerauge, mit einem durch nichts gemilderten Ausdruck der Kraft und Selbstherrlichkeit in das Gebirge. Neben ihm, etwas tiefer, ruht, das Gewehr im Arm, die Brust von der keimenden Fülle leicht gehoben, Landolo und blickt dem Vater, der es nicht achtet, mit einem innigen Lächeln der Bewunderung ins Gesicht. Vor ihnen liegt in funkelnden Alpenblumen die Beute – ein Gemsenpaar.

Die brennenden Augen und das mädchenhafte Lächeln des Knaben, über dessen Stirne eine entzückende Reinheit ruht, sind dem Maler besonders geraten.

Albert de Meuron, Die Rast der Gemsjäger (Ausschnitt)

Albert de Meuron, Die Rast der Gemsjäger (Ausschnitt)

In ihrem Roman „Nächte von Fondi“ um den Kardinal Ippolito de’ Medici und Julia Gonzaga beschreibt Isolde Kurz auch ein Bacchus-Spiel, das von Kindern und Jugendlichen vor den erlauchten Gästen des Kardinals im Garten gegeben wird. Den Bacchus verkörpert des Kardinals Lieblingspage, der immer hinter seinem Stuhl zu stehen pflegt.

François Boucher, Die vier Jahreszeiten – Frühling (1755)

Nach Beendigung des Stückes gibt es für Julia eine Überraschung, als auf einen Wink des Kardinals die beiden Spieler hergerufen werden:

Sie knieten vor Julia nieder, Ascanio legte seinen Kranz zu ihren Füßen und wurde mit einer Schale Wein von ihrer Hand belohnt. Dann zog sie das reizende Mädchen, das in seiner Verwirrung noch immer reizender wurde, in ihre Arme und küßte ihm mütterlich Stirn und Wangen, wobei die schöne Ariadne tief errötete und die Herren des Kardinals bedeutsam blickten.

Nun hat Donna Julia den schönsten meiner Pagen geküßt, und das vor meinen Augen, lächelte dieser, nachdem er die Spieler mit seinem Lob und der Aufforderung, sich jetzt an die Erfrischungen zu halten, entlassen hatte. – Wie soll ich ihm das vergeben? 

Ist Ariadne kein Mädchen? fragte sie ungläubig staunend.

So gewiß Bacchus keines ist. Sie sind sogar nur wenig im Alter verschieden. Wir fanden kein Mädchenkind, das so gut zu der Rolle gepaßt hätte. Aber laßt Euch den Kuß nicht reuen. Der Knabe ist noch unschuldig wie er aus dem Mutterleibe kam. Vielleicht wird Donna Julias Kuß wie eine Weihe mit ihm gehen und ihn lebenslang vor allem Schlechten und Niedrigen bewahren. (Isolde Kurz, Nächte von Fondi, 1922)