Das Kind in der Wüste

Der „schöne Knabe“ ist in der Literatur eine Standard-Figur: Er begegnet auch deshalb häufig, weil er vielfach einen Typus darstellt – Prinz, Page etwa. Auch der heilige bzw. heiligmäßige Junge wird gern als schön, „engelhaft“ bzw. „engelgleich“ beschrieben. Das Äußere wird zum Spiegel des Inneren und so zur Anschauung gebracht. Der Johannestag (24. Juni) lenkt in dem Zusammenhang den Blick auf den noch jugendlichen und kindlichen Johannes den Täufer, der auch immer wieder literarisch begegnet – und sei es als Vergleichsfigur.

Paolo Morando, Die Jungfrau Maria mit Kind, dem heiligen Johannes und einem Engel (Ausschnitt)

Zunächst greift man zur Beschreibung seines Äußeren auf einen biblischen Hinweis zurück, der sich am Ende der Kindheitsgeschichte des Johannes’ im Lukaasevngelium findet (Lk 1,80): „Das Kind wuchs heran und sein Geist wurde stark. Und Johannes lebte in der Wüste bis zu dem Tag, an dem er den Auftrag erhielt, in Israel aufzutreten.“ 

Hans-Hubert Sulzemoss, Johannesknabe mit Lamm

Bei der Vorstellung eines Kindes in der Wüste stellen sich verschiedene Fragen: Ab welcher Zeit bzw. ab welchem Alter lebte Johannes in der Wüste? Wie kam es überhaupt dazu? Was sagten die Eltern dazu – oder waren sie gar schon verstorben? Wie erträgt „ein Priestersohn aus behütetem Haus die unwirtliche und öde Einsamkeit“ (Josef Ernst)? Was tat er in der Wüste – verrichtete er eine Art Hirtendienst, lebte er in einer frommen Gemeinschaft mit Menschen, die sich ähnlich zurückgezogen haben, bereitete er sich auf seinen späteren Dienst als Täufer vor? Jedenfalls führt die Verbindung von heiliger Schönheit und asketischer Strenge zu der interessanten Darstellung einer herben Knabenschönheit – in der Literatur wie auch in der Malerei.

Die Volksfrömmigkeit hat diesen zeitlich nicht näher umschriebenen Wüstenaufenthalt des Kindes Johannes und späteren Täufers gern und phantasievoll ausgemalt – beginnend mit den apokryphen Evangelien des Altertums über legendenhafte Erzählungen des Mittelalters bis zu frommen Dichtungen der Neuzeit. In der umfangreichen Versdichtung „Jesus als Knabe“ (1844) wird auch beschrieben, wie die Gottesmutter Maria mit ihrem Sohn von Nazaret aus in jenes Tal wandert, wo Johannes, der Sohn ihrer Base Elisabet, sich aufhält.

Parmigianino (?), Der junge Johannes der Täufer

„Nah am Jordan erblickt man ein Thal, unwirthlich und waldreich;  / Dieß ist der Wohnsitz des Knaben Johannes, den Niemand zu sehen / Noch zu erforschen vermochte, und dessen Stimmchen – welch Wunder! – / Laut in der Wüste erscholl, wie der Klang des tönenden Erzes / Oder der Zinke.  […] Einen Felsen bewohnt er und sucht – doch konnte noch Niemand  / Eine Spur von dem Knaben entdecken – zur Nahrung sich wilden / Honig, wo immer derselbe sich beut, Heuschrecken nicht minder, / Die er entweder mit krätzigem Farnkraut oder mit seinen / Niedlichen Fingerchen weiß zu entlocken den Ritzen der Felsen.“ Nach verschiedenen Begegnung und Begebenheiten während der Wanderung hört Maria, „wie eines Knaben bezaubernde Stimme“ ertönt: „Ebnet die Pfad’ und bereitet die Wege dem Menschen und Gott!“ Und da eilt er auch schon von einer Anhöhe herab: „ein behaartes Cameelfell schirmt ihm den Rücken; / seine Schenkel und Arme sind unbedeckt; in den Händen / Trägt er ein hölzernes Kreuz, das mit Schilf zusammengeknüpft war.“ Nun steigen sie zu dritt den Hügel hinauf: „Rechts den göttlichen Sohn und links den Neffen, den zarten, führend“, betritt Maria dessen Höhle. (Jesus als Knabe. Ein lateinisches Heldengedicht des P. Thoma Ceva (1648–1737) im Versmaß der Urschrift übersetzt von Johann Michael Veitelrock, Augsburg 1844.)

Alfred Charles Lenoir, Saint Jean Baptiste

Die Maler wiederum haben dieses Sujet des Knaben Johannes in der Wüste gern und oft aufgegriffen und ihn mit den den Attributen des späteren Täufers  (Kreuzstab, Lamm, manchmal eine Quelle – Rückprojektionen charakteristischer Merkmale des großen Gottesmannes ) als kleinen Hirten, als jungen Bußrufer dargestellt; manchmal auch in der Begegnung mit dem Kind Jesus (als dieser zusammen mit seinen Eltern von Ägypten, wohin sie fliehen mussten, wieder zurückkehrte) – und dabei ähnlich, wie die zitierte Versdichtung, eine Mischung aus herb und niedlich gewählt, so dass nicht selten ein mädchenhafter Knabe zu sehen ist. Die asketische Gestalt des späteren Täufers, wie sie in den Evangelien beschrieben ist, führt wiederum dazu, dass auch der kleine Johannes, über den man ja nichts weiß, literarisch in rauer Schönheit dargestellt oder zu Vergleichen herangezogen wird:

Was aber nun meine Aufmerksamkeit auf sich zog, war ein wirklich schöner Anblick, werth, den Pinsel eines Malers zu beschäftigen. Am entgegengesetzten Ende der zu pflügenden Ebene trieb ein junger schöner Mann ein prächtiges Gespann von vier Paar dunkelfarbiger, schwarz und braun gefleckter Thiere mit jenen kurzen, struppigen Köpfen, die noch den ungebändigten Stier verrathen, und jenen großen wilden Augen, jenen barschen Bewegungen, jener nervigen, stoßweisen Arbeit, die sich noch gegen das stachelige Halsband sträubt und sich zitternd vor Wuth der Tyrannei des Joches anbequemt. […]

Joshua Reynolds, St. John the Baptist in the wilderness (1776)

Ein etwa sechs- bis siebenjähriger Knabe, schön wie ein Engel, die Schultern über seiner Blouse mit einem kleinen Lammfell bedeckt, welches ihm ganz das Ansehen des heiligen Johannes gab, schritt in der mit dem Pflug gleichlaufenden Furche und stachelte von Zeit zu Zeit die Ochsen mit einer langen, in eine eiserne Spitze auslaufenden Gerte an. Die mächtigen Thiere zuckten zusammen unter der Hand des kleinen Knaben, daß Joch und Deichsel unter ihren gewaltigen Stößen erdröhnten. So oft eine Wurzel die Pflugschar am Vordringen hinderte, rief der Ackersmann mit laut schallender Stimme ein jedes Thier bei seinem Namen – während der kleine Knabe die vier anderen regierte. Auch er schrie ihnen zu, der arme Kleine, und zwar mit einer Stimme , die er furchtbar zu machen sich bestrebte, die aber demungeachtet sanft und lieblich blieb wie sein Engelsgesichtchen. Es war ein schönes Bild, voll Kraft und Anmuth … (George Sand, Der Teufelssumpf (Ländliche Erzählungen – 1865)

Dem entsprechen Darstellungen in der Malerei. Die Bilder von Caravaggio, Murillo und manch anderer sind bekannt geworden. Außerordentlich schön – und außerordentlich verwildert, so könnte man den Kleinen nach einem Wort von Adalbert Stifter auch umschreiben.

Mehrere Männer standen mit hochaufgeschürzten Beinkleidern in dem seichten Wasser, und wuschen Schmutz und schwarzes Gras aus den Netzen, die sie stückweise aus den Fahrzeugen wickelten. Wir lenkten den Schiffsschnabel gegen sie, und fragten um Franz Rikar. Aber sie sahen uns sprachlos an, als ob sie sich auf eine Antwort besännen. Als ich, wie gewöhnlich, eine kleine Beschreibung von dem Manne gab, rief seitwärts eine feine knabenhafte Stimme: „Da kann ich vielleicht eine Antwort ertheilen.“

Theodor Baierl – Der junge Johannes der Täufer (1920)

Wir sahen dahin, woher die Stimme gekommen war, und sahen einen Knaben auf einem der aus dem Wasser hervorragenden Steine stehen. Er gehörte nicht zu den Fischern, sondern hatte ihnen nur zugeschaut. Um das sehr schöne aber sehr braune Angesichtchen mit den großen italienischen Augen waren äußerst verwirrte und verwilderte Haare, der Hals und die Oberbrust waren nackt, dann hatte er ein rauhes Ziegenfell um die Schultern, zu einer Art Überkleid geheftet, aus dem die nackten Arme hervor ragten, deren einer einen oben gekrümmten unten mit der Spitze in das Wasser gestemmten Stab hielt. Die Beinkleider endeten mit zerrissenen Fetzen gleich unter dem Knie, von wo die nackten braunen Füße bis zum grauen Steine nieder gingen. An einer Schnur hatte er eine runde hölzerne Flasche umhängen. Die Erscheinung war wie ein kleiner Johannes in der Wüste. […] Ich nahm nun meine Ledertasche vom Schiffsboden auf, und hing sie um. Ich nahm mein Fernrohr, nahm die Pistolen, nahm eine Flasche Wein und etwas kalten Braten, steckte alles in meine Ledertasche, und stieg zu dem Knaben am Ufer aus, der mich mit einem wirklich außerordentlich schönen aber auch außerordentlich verwilderten Angesichte und mit verständigen Augen ansah. Ich gab ihm ein Geschenk, das er mit freundlichem Lächeln annahm. (Adalbert Stifter, Zwei Schwestern – 1850)

Von John Everet Millais gibt es ein Bild, das Jesus in der Werkstatt seines Vaters zeigt. Er hat sich an der Hand verletzt, die besorgte Mutter ist bei ihm, der Nagel, an dem sich Jesus verletzt hat, wird mit einer Zange entfernt. Und der kleine Johannes im Fellschurz bringt eine Schüssel mit Wasser … Ein Bild voller Symbolik.

Werkstatt

John Everett Millais – Christ in the House of His Parents (`The Carpenter’s Shop‘) ca. 1850

Auf dem Bild von Morando hält der junge Johannes eine Zitrone in seiner rechten Hand, während seine linke einen Stecken umfasst, dessen Ende ein Kreuz bildet, das ein Spruchband mit der Aufschrift „Ecce agnus dei“ trägt. Sein Blick ist abgewandt. Der kleine Jesusknabe weist auch mit der rechten Hand auf die Zitrone, sein Blick ist auf die Betrachter des Bildes gerichtet.

Was hat es mit dieser Zitrone auf sich?

Die Zitrusfrucht, Etrog, hat im Jüdischen eine tiefe und vielschichtige Bedeutung. Sie wird auch als Frucht des Paradiesesbaumes gedeutet. Beim Laubhüttenfest gehört der Etrog zu dem nach 3 Mose 23,40 vorgeschriebenen Feststrauß aus Früchten von schönen Bäumen, Palmwedel und Zweige von Laubbäumen und Bachweiden. Der Etrog habe das beste Aroma und den besten Geschmack, heißt es. Sein Geschmack wie der angenehme Geruch symbolisiere eine Person, die sowohl gelehrt ist als auch Gutes tut (die Dattelpalme hat Geschmack, aber keinen Geruch, die Myrthe einen Geruch, sie schmeckt aber nach nichts. Die Bachweide hat keines von beidem).

Es lassen sich so verschiedene Bezüge zu Jesus herstellen – vom Paradiesesbaum zum Kreuzesbaum; zur Gelehrsamkeit, die schon der zwölfjährige Jesus im Tempel unter Beweis stellt, und den guten Werken, die er den Menschen tat. Und interessant ist auch, dass es zum Laubhüttenfest gehört, den schönsten Etrog dafür auszuwählen: Das kann auch wieder auf die Schönheit Jesu weisen, die eine innere ist und die Vollkommenheit Gottes spiegelt.

Bekanntlich war Johannes der Täufer nach den Anhaben des Lukasevangeliums genau sechs Monate älter als Jesus (1,26 und 36), was dem Datum seiner Geburtsfeier am 24. Juni, sechs Monate vor Weihnachten  am 25. Dezember (das ist jeweils der 8. Tag vor den Kalenden des nächsten Monats), entspricht. Aber in den Bildern bleibt Jesus eher klein, während Johannes älter wird und wächst (ganz entgegen seinem Wort: Jener muss wachsen, ich aber muss abnehmen – Joh 3,30). Bei der Darstellung der Begegnung zwischen den beiden Knaben Jesus und Johannes kommt es auch zu ganz interessanten Aspekten, insofern der um sechs Monate Jahr ältere Johannes auf Bildern oft sehr viel älter als Jesus dargestellt wird – und auch, sowohl in der Literatur wie in der Malerei, als besonders schöner Knabe. – Erst mit den Jahren gleichen sich die beiden an.

Guido Reni, Jesus umarmt Johannes

A propos Bilder:

Schon bei den Renaissance-Künstlern war der junge Johannes ein wichtiger Typos: „Der jugendliche Johannes aber wird als das Bild eines vollkommen schönen Knaben dargestellt und ist als solcher zu einer Lieblingsfigur des Zeitalters geworden.“ (Heinrich Wölfflin, Die klassische Kunst – 1908). Das Interesse an diesem  transitorischen Alter zog auch Donatello „immer wieder dahin, unter dem Namen Johannes des Täufers die herbe Schönheit der florentinischen Knaben zu feiern“. (August Schmarsow, Donatello – 1886) Und die Nazarener-Maler in Rom Anfang des 19. Jahrhunderts besaßen in dem  Knaben Xaverio (Safferio) ein Modell, den sie auch gern als Johannes darstellten.  Franz Pforr, der ihn öfter zeichnete, schrieb über ihn: „Da kenne ich einen jungen Knaben, einen Römer von niedriger Herkunft und armen Eltern, mit dem verplaudere ich gern eine Stunde; er hat alle Vorzüge unverdorben, die der herrliche Himmelsstrich hervorbringt, eine besondere Körperschönheit (ich habe ihn als Modell kennengelernt), ein Gesicht wie ein Engel und eine Anmut, die nicht zu beschreiben ist in allen Bewegungen und Reden …“

Zurück zur Literatur. Der kleine Held in Hans Hoffmanns Novelle „Perikles, der Sohn des Xanthippos“ (1907) fällt einem italienischen Photographen auf. Er überredet den Griechenbuben, ein Bild von sich machen zu lassen – freilich nicht als Porträt, sondern als Heiligenbild, wie er sie aus solchen Photos erstelle:

Jean-Auguste-Dominique Ingres, O Infante São João

Er bediene sich aber dazu menschlicher Vorbilder, wie sie ihm durch den Ausdruck des Gesichts und durch die Gestalt geeignet schienen, diesen oder jenen Heiligen vorzustellen. So habe jetzt Perikles in seinem anständigen Hinaufblick ihm eine treffliche Verwendbarkeit für ein Bild Sankt Johannes des Vorläufers verraten, da er auch gerade in dem rechten Alter sei, noch ein Knabe und doch nicht mehr allzu weit von den Jünglingsjahren entfernt. Der Knabe zeigte keinerlei Abneigung gegen einen so ehrenden Gebrauch seiner Person und folgte dem Italiener, nachdem dieser das Band für ihn erstanden, durch einige Gassen und über einige Treppen hinauf in dessen Werkstatt. Hier mußte er sich rasch seiner levantinischen Gewänder vom Fez bis zu den Schnabelschuhen entledigen und ward dafür mit einem Hammelfell umgürtet und mit einem Stabe versehen, auch wühlte der Meister ihm die schwarzen Haare ziemlich gewalttätig durcheinander, wußte aber diese prächtige Willkür doch wieder durch unmerkbare künstlerische Gesetze reizvoll zu umschreiben. … Nachdem diese stille Qual überstanden war, wurde Perikles mit der Verheißung entlassen, es werde zur besonderen Belohnung seiner Anstelligkeit ihm ein Exemplar der Abzüge zur Verfügung gestellt werden. Und wie er nach aufgeregtem Harren einige Tage später sein Bildnis abzuholen kam, durfte er mit Recht gar freudig erstaunen, welch einen prächtigen Sankt Johannes er in den Händen hielt.“

 

 

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