Der kleine Gerechte
1966 starb in Bad Doberan bei Rostock der Journalist und Schriftsteller Ehm Welk. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben, bekannt und populär ist er aber bis heute vor allem eines Titels wegen: „Die Heiden von Kummerow“. Mit diesem Buch, 1937 verfasst, hat er seinem Geburtsort Biesenbrow in der Uckermark ein unvergessliches Denkmal gesetzt. Kummerow heißt der Ort bei ihm, ein kleines Dorf, das keine Straßen, sondern nur „Enden“ hat („Hof-Ende“, „Lehm-Ende“ usw.), aber eine Kirche und eine Schule und zwei Gasthäuser aufweist. Der Dorfschulze ist zwar das Oberhaupt, faktisch aber ist der Pastor die beherrschende Figur des Dorfes, dessen Bewohner, weil sie nach dem Dreißigjährigen Krieg die zweite Kirche abgerissen und die Steine für ihre Häuser verwendet hatten, seit dieser Zeit von den Dörflern ringsumher nur „Heiden“ genannt werden.

Ausschnitt aus einer Skulptur vor dem Ehm Welk-Haus in Bad Doberan – mit Kantor Kannegießer.
In diesem Kummerow lebt auch der noch nicht elfjährige Martin Grambauer mit seinen Eltern und Geschwistern. Ehm Welk beschreibt ihn als schlank und mit langen flachsblonden Haaren, was ihn schon äußerlich gegenüber den Jungen im Dorf abhebt. Sein Vater, Gottlieb Grambauer, hält als einziger im Dorf eine Zeitung, hat politisch liberale Tendenzen und ist von daher auch jedem kirchlichen und staatlichen Obrigkeitsdenken abhold. Seinen hellen und kritischen Geist besitzt auch Martin. Trotz seiner jungen Jahre ist er schon der Beste der Einklassen-Schule und damit „Erster“, was auch Aufsichtspflichten mit sich führt. Er ist zugleich „Kirchenjunge“, darf und muss im Gottesdienst die Lichter anzünden, die Nummern der Lieder aufstecken und vieles andere mehr.

Albert Anker, Schulknabe (ca. 1875)
In seiner Aufgewecktheit und in seinem Streben nach Gerechtigkeit ist Martin der Liebling des alten rauschebärtigen Lehrers, Kantor Kannegießer. Unter all der Dumpfheit der Dorfjugend, die er seit vier Jahrzehnten zu unterrichten hat, erscheint ihm Martin kurz vor seiner Pensionierung nochmals wie ein helles Licht; oft sucht er das Gespräch mit ihm: „Der alte Lehrer sah auf den Jungenkopf vor dem Fenster, wie das weiche Licht durch die langen, hellblonden Haare schimmerte und einen ganz unwirklichen, sanften Glanz darum legte.“ Und er sieht in ihm einen ähnlichen Jungen vor 50 Jahren, der auch versucht hatte, die vielen Ungerechtigkeiten zu meistern … Einmal spürt er, wie Martin an seiner neuen Rolle als „Erster“ schier verzweifelt und das Amt abgeben möchte. Da überkommt es ihn: „Er riss den Knaben hoch, und während Martin und alle in der Schule dachten, jetzt wird er übergelegt, nahm Kantor Kannegießer Martin in die Arme und küßte ihn auf die Stirn. Sein Gesicht war dabei gerötet, Martins feuerrot, den anderen standen die Augen offen.“

Firmin Base, L’enfant au pain (Ausschnitt)
Martin ist, um es mit Michel Tournier (Der Erlkönig) zu sagen, „froh, selbstsicher, voll Zutrauen in die Welt, die ihn umgibt und die ihm vollkommen in Ordnung scheint“. Für ihn sind die Heiligen ebenso selbstverständlich existent wie die Geister; er ist fromm und fordert doch bei Gewitter keck die himmlischen Mächte heraus; er nimmt Partei für die Schwachen und haut sich deshalb auch mit den Stärkeren; er ist manchmal ein wirklicher Engel und kann ein kleiner Teufel sein: Einmal führt er als „Hauptmann“ die Dorfjugend nach Randemünde (Angermünde); seine „Braut“ Ulrike, die Tochter des Pastors, stibitzt dort eine Soldatentrommel, um sie ihrem Martin zu geben. Was prompt von den Soldaten entdeckt wird: „Mit zwei Fingern, die er in Martins langen hellen Haarschopf drehte, zog der Unteroffizier den Schuldigen aus der Reihe. ‚So, du also! Sieht aus wie ein Engel und ist ein ganz schlimmer Deibel! Warum hast du die Trommel gestohlen?’“

Martin Grambauer wurde 1967 von Jörg Resler gespielt.
Die Geschichten spielen um 1900 innerhalb eines halben Jahres, von Palmarum (Palmsonntag) bis Michaelis (29. September). 1967 ist das Buch verfilmt worden – eine seltene gesamtdeutsche Produktion. Wer nur den Film kennt („Die Heiden von Kummerow und ihre lustigen Streiche“), mag das Buch für einen Vorläufer des „Zur Hölle mit den Paukern“ samt dessen flachen Verfilmungen halten („Die Lümmel von der ersten Bank“); dabei hat es eine Tiefe, die auch Erwachsene berührt. Denn nicht nur Martin Grambauer, sondern vor allem Ehm Welk, sein alter Ego, ist ein Philosoph; für ihn besteht die Jugendzeit nicht nur aus Streichen, sondern wirft viele Fragen nach der Ungerechtigkeit unter den Menschen auf, denen sich Martin stellt: sei es das Leiden eines geprügelten Pferdes, die Armut seines Freundes Johannes, die Ausgrenzung des Kuhhirten Kirschan aus der Dorfgemeinschaft. Dieses Thema wird auch in den weiteren um Martin und seinen Vater angesiedelten Büchern von Ehm Welk immer wieder aufgegriffen: „Die Gerechten von Kummerow“, „Die Lebensuhr des Gottlieb Grambauer“ und „Das Land, das ferne leuchtet“.
Ehm Welk lebte zuletzt in Bad Doberan; sein Wohnhaus ist dort zu einer kleinen Gedenkstätte des Dichters geworden. Eine Steinskulptur vor dem Haus erinnert an etliche Personen und Szenen aus den „Heiden von Kummerow“.