Flötenspieler
In der Athener Jugend seiner Zeit, und nicht nur bei dieser, war er ein Star, wie wir sagen würden, ein Trendsetter. Er war jung, hübsch, kokett, mitunter frech – und setzte sich – auch als Erwachsener – gern über Konventionen hinweg. Alkibiades verabscheute es als Kind beispielsweise, die Doppelflöte (Aulos) zu spielen, wie es üblich war. Er begründete dies damit, dass das Blasen der Flöten sein Gesicht verzerre und ihn zudem am Reden hindere. Er war sich seines schönen Äußeren und seiner schon in Jugendjahren eigenen Gewandtheit im Sprechen bewusst. So konnte er auch seine Weigerung, das Flötenspiel zu erlernen, gut begründen: „Sollen doch die Söhne der Thebaner Flöte spielen, denn reden können sie ja nicht. Wir Athener aber haben, wie die Väter uns sagen, Athene zur Gründerin unseres Staates, und Apoll ist unser väterlicher Gott; sie hat die Flöte weggeworfen und er gar dem Flötenspieler die Haut abgezogen.“ Viele Jugendliche schlossen sich ihm an; das führte schließlich dazu, dass man das Flötespielen zunehmend verachtete und es sogar aus dem Lehrstoff strich. – So berichtet es Plutarch in seiner Beschreibung des Alkibiades. Vincenz Brun beschrieb in seinem Roman Akibiades (1939), wie dies auch Stadtgespräch war, als der Junge einen Lauf gewonnen hatte und geehrt wurde.
Alkibiades … ritt zwischen Nikiades und Polytion, seinen besten Freunden. Der Festzug bewegte sich im Schneckentempo. Die Freunde, die älter waren als unser Freund, hielten die Arme, als wollten sie ihn beschützen, um des Jüngeren Schulter, jedoch wars Zärtlichkeit. Sie wollten ihn auf alles aufmerksam machen, was die Stadt an diesem Tage bot, besonders auf den grossen Erfolg, den er sogleich beim ersten öffentlichen Auftreten hatte. […] „Das ist der Kleine, dem sie den Preis gegeben haben!“ „Das ist Alkibiades, der bei Perikles wohnt. Er hat auch im Laufen fünfzig Fässer öl gewonnen.“ „Er ist ein Schlingel. Sie haben mir auf der Burg erzählt, dass er derselbe ist, der in der Schule nicht Flöte spielen will, weil er Angst hat, dass ihm die Wangen platzen –“ „Weil er Angst hat, dass ihm die Schönheit verloren geht, der Schöne.“ „Der Schöne! Alkibiades! Alkibiades!“
Zu Alkibiades: http://tadzios-brueder.guido-fuchs.de/diese-knospende-wohlgestalt/
Vielleicht ist es aber auch so, dass das Flötenspiel, wenn es hingebungsvoll geschieht, als schön anzusehen ist, trotz aufgeblasener Backen. Da ist jemand ganz in sein Spiel versunken und wirkt dadurch gelöst. Ein schönes Beispiel dafür liefert uns der antike griechische Autor Longos in seiner Erzählung von Daphnis und Chloe.
Am folgenden Tage aber, da sie auf die Weide gekommen waren, setzte sich Daphnis unter die gewohnte Eiche und flötete und sah zugleich auf die Ziegen hin, die gelagert waren und seinen Tönen zu horchen schienen; Chloe aber saß in seiner Nähe und sah zwar auch auf die Herde der Schafe, mehr aber noch auf Daphnis hin. Und wie sie ihn so flöten sah, schien er ihr wiederum schön, und diesmal hielt sie die Musik für die Ursache der Schönheit, daher sie nach ihm auch selbst zur Syrinx griff, ob sie wohl ebenfalls schön würde. Sie beredete ihn aber auch wiederum zu baden und sah ihm beim Baden zu und berührte ihn, indem sie ihn ansah, und als sie wieder fortging, lobte sie seine Schönheit, und dieses Lob war der Liebe Anfang. (Longos, Daphnis und Chloe)
Immer wieder wird die Flöte auf Bildern zum Zeichen des idyllischen Arkadiens, sei es als Doppelflöte wie auf Jules-Élie Delaunays „La leçon de flûte“ (1858), wo ein junger Hirt versucht, einem Knaben die Flötentöne beizubringen, sei es als Syrinx („Panflöte“) auf Alfred Böcklins „Klage des Hirten“ (auch „Amaryllis“ genannt), das eine Geschichte des griechischen Dichteres Theokrit illustriert, in der ein Hirte von der Nymphe Amaryllis zurückgewiesen wird. Böcklin malte diesen auf seinem Bild von 1866 als Knaben und „lieh“ sich dabei dessen Beine, wie er selbst sagte, von einer Balletttänzerin …
http://tadzios-brueder.guido-fuchs.de/braeunlich-und-schoen-der-hirtenknabe/
A propos Tanz und Tänzerin: Alfred Henschke, der sich mit seinem Künstlernamen Klabund nannte, verfasste einen kurzen Roman über den französischen General Jean-Victor Moreau, der zum Rivalen Napoleons wurde. In seinen einsamen Stunden lässt er sich von einem Knaben Menuette von Rameau auf der Flöte vorspielen:
Christophe ist auf einmal da. Niemand weiß woher. / Man hängt ihm die große Trommel um. / Abends spielt er Flöte. / Moreau läßt ihn in sein Zelt kommen. / Der Knabe tritt mit einer Verbeugung ein wie ein Edelmann. / Moreau schenkt ihm Nüsse und Früchte. / „Kannst du mir ein Lied spielen,“ sagt Moreau, „wie man es sang, als noch Friede war?“ / Der Knabe bläst auf seiner Flöte ein Menuett von Rameau. / Der Wachtposten lauscht. / Eine Marketenderin äugt durch das Loch des Zeltes. / Eine süße Melodie. / Und ein süßer Knabe. / Moreau betrachtet den Knaben. Er ähnelt Jeannette. / Moreau hat Jeannette noch nicht vergessen. / Das ist lächerlich, denkt Moreau, daß ich ein dummes Frauenzimmer wie Jeannette nicht vergessen kann. / Er lauscht dem Menuett. / Er wird schwach und schwächer. / Schon hebt er die Stirn. Die Füße. Und umschwebt graziös die kleine Jeannette, die sich ihm als Partnerin bietet. / Die Töne des Menuetts flattern wie goldene Nachtigallen und Lerchen. / Das ganze Zelt zwitschert. / Moreau erhebt sich vom Kartentisch. / Er tritt auf Christophe zu und küßt ihm die Stirn. (Klabund, Moreau, 1916)
Auch in Manfred Hausmanns Erzählung „Ontje Arps“ ist es ein Tanz bei einem Gartenfest und ein flötenspielender feiner Knabe, der den elfjährigen Protagonisten Ontje, einen rechten Stromer und Gssenjungen, sogleich gefangen nimmt. Weil dieser Hinnerk so vollkommen anders ist als die Jungen aus Ontjes Bande, schaut er wie Verzauberter zu ihm auf. (Siehe dazu Beitrag: Dio mio!)
Der schöne Knabe kann nicht nur etwas Höheres und Besonderes, sondern auch eine andere Wirklichkeit verkörpern, etwas Ursprüngliches, Endgültiges, sogar Himmlisches. So erscheint auch der Knabe in Goethes „Novelle“. Hier wird ein ausgebrochener wilder Löwe, der eine kleine höfische Ausflugsgesellschaft bedroht, durch einen schwarzgelockten und schwarzäugigen Knaben mit Flötenspiel und durch Gesang besänftigt. Auch zieht er dem Löwen einen Dorn aus der Vordertatze, den das Tier sich eingetreten hatte und unter dem es leidet. Das Lied, das der Knabe singt, ist voll religiöser Bilder, und die ganze Szene lässt an die Legenden von Hieronymus und dem Löwen denken, auch an die von Franziskus und dem Wolf von Gubbio – in jedem Fall geht es um Versöhnung, Versöhnung zwischen Mensch und Natur: um eine Heilszeit. Und der Knabe in der „Novelle“ erscheint fast wie einer der Engel, von denen er singt.
Eine domestizierte Form in jeglicher Hinsicht ist, wenn Flötenspiel und wildes Tier nur noch als Belustigung des Volkes dienen, wie das früher bei Gauklertruppen mitunter der Fall war. In Georg Ebers Roman „Die Gred“, der im „alten Nürnberg“ spielt, liest man von einer solchen Szene. Immerhin war der Knabe, der die Flöte blies, ansehnlich.
Ein Bärenführer, dergleichen ich bisweilen auf dem Jahrmarkt gesehen, hatte den Weg in die Forstmeisterei gefunden, und der braune Mann, sowie seine beiden Gesellen, die seine Brüder zu sein schienen, schauten aus wie all diese Leute. Unter der Adlernase hing jedem ein gewaltiger Schnurrbart, und auf dem wirren dunklen Haar saß eine Kappe von schlaffem rotem Filz. Ein hoch Kameeltier, auf dessen Buckel ein Aefflein hockte, schritt gelassen neben dem einen dahin, während der andere einen braunen Bär mit dem Maulkorb an der Schnauze hinter sich herzog.
[…] Ein Bub von etwa zwölf Jahren blies zu des Bären Tanz die Flöte, und da er nichts trug denn ein löcherig Röcklein, und ein kühler Ostwind wehte, bebte er vor Frost und zog sich beim Blasen zusammen. Dannocht war er ein feiner Bub, von schlankem Bau und mit einem Antlitz von fast ebenmäßiger, wenn auch fremdartiger Schöne. Sicherlich war er von fern her, doch kaum von der anderen Stamme. (Gerog Ebers, Die Gred – 1889)