Goethe und die Blume des Schuhputzjungen
In seinen „Anekdoten“ (1964) erzählt Friedrich Sacher von der Begegnung, die Goethe während seines Italienaufenthaltes in Rom mit einem Schuhputzjungen hatte. Sie hatten sich nicht zufällig getroffen – der Kleine wohnte mit seiner Mutter im Hinterhof des Hauses, in dem Goethe sich eingemietet hatte, und vor dem Haus war sein Standplatz. „Und so waren Goethe und er bereits am ersten Morgen miteinander bekannt geworden. Die Schönheit, die Natürlichkeit des Knaben gewannen sogleich Auge und Geist des Dichters. Und der Knabe himmelte ihn bald an, diesen einzigen, diesen wirklichen ‚Herrn‘.“
Auch deshalb, weil Goethe allein das „segno“, das Zeichen, bemerkt hatte, das den kleinen Städter mit dem Land und der Natur verband: Er trug einen täglich neu aus dem Hinterhof abgerupften Grashalm wie ein Ring um den rechten großen Zeh geflochten – eine Art grünen Talisman gegen das Grau der Stadt. Und weil er spürte, dass der hohe Herr ihn verstand, weihte er ihn eines Abends in sein kleines Geheimnis ein und zeigte Goethe seinen liebsten „Besitz“: eine Blume, die aus einer Handbreit Erde zwischen dem Ziegelschutt aufwuchs.
Es war eine „Nachtkerze“, „Oenothéra biennis“, wie Goethe sogleich feststellte. Er kannte sie – aber diese Blume in der Dämmerung aufblühen zu sehen, dazu mit drei Kelchen, dazu hatte es erst des Knaben bedurft. Der brach die schönste der drei Blüten ab und steckte sie Goethe an das Gewand.
„Voll Reue darüber, den Knaben einmal gescholten zu haben, weil er ihm nicht rasch genug Licht gemacht hatte vor der Ankunft der Geliebten, neigte sich Goethe nun über ihn und küsste ihn leicht auf die Stirn.“ Nicht nur die Nachtkerzenblüte, auch der Knabe wurde ihm zu einem lieblichen Boten der Nacht …
Zünde mir Licht an, Knabe! – „Noch ist es hell. Ihr verzehret
Öl und Docht nur umsonst. Schließet die Läden doch nicht!
Hinter die Häuser entwich, nicht hinter den Berg, uns die Sonne!
Ein halb Stündchen noch währts bis zum Geläute der Nacht!“ –
Unglückseliger! Geh und gehorch! Mein Mädchen erwart ich.
Tröste mich, Lämpchen, indes, lieblicher Bote der Nacht! (Goethe, Römische Elegien XIV)
Schuhputzjungen fielen immer wieder den Künstlern ins Auge; der Maler John George Brown hat sie mehrfach dargestellt, aber auch andere. Und auch mancher Schriftsteller erinnert sich gern an die Begebung mit den aufgeweckten Buben:
Da waren die beiden Stiefelputzjungen, die jeden Fremden am Morgen abfingen: „Cirer, m‘ sieur!“ und denen zuliebe man seine Schuhe mehrmals am Tage wichsen lässt, weil sie so schön draufspucken und sagen: comme la glace, comme la glace! Und sie werden auch spiegelblank um einen Sou. Täglich hatte ich beim Straßenfrühstück einen der braunen Bengel an jedem Bein hängen, lachend, spuckend und bürstend. Da war ein echtes arabisches Münchnerkindl, ein strahlender Junge, der seinen Haik als Zipfelmütze über dem lachenden braunen Gesicht drapiert hatte und bloss um seiner Fröhlichkeit willen einen Sou verdiente ; er erriet auch meine Nationalität, und als ich ihn fragte, woran — lachte der Schlingel: „Oh, vous êtes Allemand, les Allemands sont bons!“ (Ludwig Finkh, Biskra – 1906)