Josef und seine Freunde

Holub,1Sein erstes Buch schrieb Josef Holub schon in den 1950er Jahren, doch das Manuskript blieb jahrzehntelang in der Schublade, weil das Sujet, eine deutsch-tschechische Kinderfreundschaft, nicht in die Zeit des kalten Krieges zu passen schien; erst Anfang der 90er Jahre wurde die Geschichte veröffentlicht. „Der rote Nepomuk“ heißt sie und handelt von der Freundschaft des deutschen Jungen Josef mit dem Tschechenbuben Jirschi in Böhmen, nicht weit entfernt von der deutschen Grenze. Es ist zum Teil seine eigene Geschichte, denn Holub wuchs in Neuern/Nýrsko im Böhmerwald auf. Und natürlich gibt es dort auf den Brücken auch einen heiligen Nepomuk.

Dass diese beschriebene Freundschaft überhaupt zustande kommt, ist fast schon ein Wunder, denn gleich zu Beginn der Erzählung bringt Josef den ihm bislang unbekannten „Böhmack“ durch einen dummen Streich in Lebensgefahr. Einige Wochen später läuft der ihm überraschend wieder über den Weg; Josef ist mit seiner Familie am Ostermontag zur nahen Wallfahrtskirche in Putzeried gewandert, um am festlichen Gottesdienst teilzunehmen. Rund um die Kirche geht es ähnlich wie auf einem Jahrmarkt zu, und da, im Gewühl, geschieht es: Plötzlich steht „der Tschechenbub“ vor ihm. Josef weiß genau, was auf ihn zukommt; für die dumme Geschichte von damals kommt jetzt die Revanche. Und trotz aller Furcht vor Gendarmen und dem Gericht muss er den Jungen bewundernd anschauen: „Ich werde alles abstreiten und sagen, ich kenne diesen Menschen nicht. Wie schön er ist, schöner als der Jesusknabe, der auf dem Seitenaltar der Kirche in Diwischowitz zwischen den Pharisäern und Schriftgelehrten steht und selbige mit seiner Gescheitheit gewaltig in den Schatten stellt.“

Aber die beiden machen das unter sich aus und hauen sich nun ordentlich im nahen Wald, bis dem Josef Blut aus der Nase läuft. Aber da lässt der Tschechenbub von ihm ab, wischt ihm mit einem Taschentuch das Blut von der Nase und fährt ihm sogar mit dem Fingerkamm durch die Haare, damit Josef äußerlich wieder einigermaßen hergestellt zur Kirche und Familie zurückgehen kann. Sie sind jetzt quitt.

Josef Wenzel Süß, Raufende Jungen (1937)

Irgendwann später treffen sie wieder aufeinander, und dem Josef pumpert erneut das Herz, diesmal aber nicht vor Angst und schlechtem Gewissen, sondern vor Freude. Dann sagt ihm „der Tschechenbub“, dass er Jirschi heißt, ein Name, der Josef gefällt und von dem er meint, dass er wunderbar zu ihm passt. Und er sagt, dass er der Josef ist, ganz einfach der Josef. Jirschi schaut eine Weile, dann meint er: „Du bist der Pepitschek, und das sagt er so weich, dass ich an einen gezogenen Apfelstrudel mit viel Zimt und Zucker denken muss.“ So erlebt er mit Jirschi erstmals einen „Allelujatag“, dem noch viele in diesem langen Sommer folgen werden. Und immer wieder fällt dem Josef/Pepitschek auf:

Wie schön Gott den Jirschi gemacht hat. Das muss ein ganz besonderer Tag gewesen sein. Jeder Zentimeter ist genau richtig, in der Länge, Breite und überhaupt. Es ist gewiss keine Gotteslästerung, wenn ich den Jirschi schöner finde als den Himmelsknaben in der Kirche von Diwischowitz. Gott ist groß und er hat sich bei dem Jirschi besonders angestrengt. Ich kann nichts dafür, dass mich immer eine Freude streichelt, wenn der Tschechenbub da ist.

Thomas Anschutz, Two boys and a boat

Die sich zart entwickelnde Freundschaft der beiden Zwölfjährigen steht in großem Kontrast zu der zunehmenden Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Tschechen in jenem Landstrich des Böhmerwaldes. Denn es ist das Jahr 1938 und der Einmarsch der Deutschen in die Tschechei, der Anschluss des Sudetenlandes, steht unmittelbar bevor. Und so werden die beiden auch in politische Vorgänge verwickelt, die sie in Abenteuer führen (es ist ja ein Jugendbuch), sie erleben aber doch einen unvergesslichen gemeinsamen Sommer in ihrem kleinen Paradies bei Putzeried. Danach allerdings wird nichts mehr so sein, wie es war. Nach den Ferien durchzieht nun die Grenze zwischen dem Großdeutschen Reich und Tschechien ihr Paradies; der Jirschi geht auf das Gymnasium in Pilsen und die beiden werden sich nie mehr wiedersehen. „Dann kommt der Abschied. Ganz schnell und für immer. Wir wissen es beide, ohne es zu wissen. Der Jirschi dreht sich plötzlich um, schaut mich eine Sekunde und eine Ewigkeit lang an, gibt mir einen Kuss und läuft davon.“

lasuigezeiteWie es mit Josef bzw. in der Kindheit Holubs weitergeht, erzählt der Roman „Lausige Zeiten“, der ebenso wie „Der rote Nepomuk“ stark autobiographisch gefärbt ist. Auch Josef muss sein Heimatdorf verlassen. Er soll einmal etwas Besseres werden, und so wird er mit 14 Jahren Schüler der Lehrerbildungsanstalt in Prachatitz (Prachatice) im südlichen Böhmerwald. Hier will man aus den Jungen und Mädchen ordentliche „Jungmannen“ und „Maiden“ und später überzeugte Nazi-Lehrer machen. Schon die erste Fahrt mit der Bahn dorthin aber lässt in ihm eine wehmütige Erinnerung hochkommen: Ihm gegenüber sitzt eine Familie mit fünf Kindern, ein strohblonder Knabe ist darunter. Er erinnert ihn an seinen früheren tschechischen Freund Jirschi. Aber Jirschi kann es nicht sein, er wäre ja älter – und vor allem schöner. „Mein Herz pumpt schneller. Ich blicke zurück, wo zwischen Hadruwa und Putzeried einmal das Paradies lag, in dem ich mit dem Jirschi den schönsten Sommer erlebt habe.“

Zum Glück kommt er in dieser Anstalt zufällig im Schlafsaal neben einem Jungen zu liegen, der einen sympathischen Eindruck auf ihn macht, weil er eine helle Stimme hat, also auch noch nicht im Stimmbruch ist, und sauber und anständig aussieht. Florian heißt er, und bald schon freunden sich die beiden auch an. Einmal löffelt der Florian, der auch im Speisesaal neben Josef sitzt, dessen Strafportion Spinatsuppe aus, so dass der vom Essen aufstehen darf und mit ihm in die Stadt gehen kann. „Auf dem Heimweg schlenkere ich so geschickt mit meinem rechten Arm, dass ich die Hand des Florian erwische. Ich drücke sie eine Weile, und so brauche ich keine große Dankesrede zu halten wegen der Spinatsuppenhilfe. Der Florian guckt wie einer, der in Mathe ein Null ist und trotzdem einen glatten Einser geschrieben hat.“

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Georgios Jakovidis, Laughing boy

Und es fällt ihm auf, dass der Florian sehr schön lachen kann, wie schon sein Freund Jirschi. Manchmal vergleicht er die beiden, aber der Jirschi ist eben der Jirschi und der Florian der Florian. „Der eine ist so und der andere so. Es gibt nur einen Jirschi und nur einen Florian. Den einen mag ich immer noch ganz besonders, und an den anderen gewöhne ich mich auch schon recht gut.“ Obwohl die beiden gute Freunde werden, bringen es diese lausigen Zeiten unter der Fuchtel eingefleischter NS-Lehrer leider mit sich, dass es auch mal Streit und längeres Schweigen zwischen beiden gibt. Aber dann finden sie doch wieder zusammen, auf einem Ausflug und bei der Suche nach einer bestimmten Quelle: Die wiedergefunden Freundschaft macht auch den Florian glücklich: „Dabei lacht er und fährt mir mit beiden Händen kreuz und quer durch die Haare. Ich bleibe nichts schuldig und reibe ihm die Ohren heiß.“

Leider ist dieser Freundschaft ebenfalls keine lange Zeit gewährt, denn auch Florian wird er nach diesem Schuljahr nie mehr wiedersehen: Er kommt auf tragische Weise ums Leben.

JukschJOnasIn Holubs Bücher spielt die Freundschaft zwischen den Jungen eine große Rolle. Nichts besonderes für Jugendbücher. Aber diese Freundschaften erscheinen anders, eher zart, nicht wild und laut. So sind die von den jeweiligen Protagonisten ersehnten Freunde auch meist von feinerer Art, selbst der „Räubersohn“ Christian in „Bonifaz und der Räuber Knapp“ und schon gar der Uli in dem Buch „Juksch Jonas und der Sommer in Holundria“, der sich später als „die Uli“ und Mädchen entpuppt … Der Florian in „Lausige Zeiten“ wird als „ungewöhnlich“ beschrieben, weil er sich beispielsweise über Blumen freut, die er wachsen sieht. „Trotzdem mögen ihn die meisten Jungmannen, und ich mag ihn noch ein bisschen mehr.“

Und es fällt auf, dass gelegentlich auch Zärtlichkeiten zwischen ihnen vorkommen wie Hände halten, sich gegenseitig die Haare verstrubbeln – sogar ein scheuer Kuss wird beschrieben. Holub hat in seinen Büchern „so diskret wie genau die erotische Klangfarbe einer Jungenfreundschaft getroffen“, schrieb Gundel Mattenklott in einer Rezension in der FAZ. Dazu wurde Holub einmal befragt; er antwortete:

Ich war vor einigen Jahren bei einem Symposium in Bayern, wo es um diese Freundschaften zwischen Jungen ging. Dort ist eine Schulklasse gewesen, eine Art Vorführklasse, die nach ihrer Meinung gefragt wurde: „Sagt mal, wie seht ihr das, dass sich die zwei Jungen einen Kuss geben?“ Die Jungen reagierten mit Stillschweigen, die Mädchen aber sagten: „Unter uns ist so etwas üblich. Das ist nichts Schlechtes, sondern sogar etwas sehr Schönes.“ Die Jungen blieben weiterhin stumm. Nach mehrmaliger Aufforderung stand dann doch einer auf, das muss der Klassenprimus gewesen sein, und sagte: „So etwas kennen wir nicht.“ Nachfrage: „Warum kennt ihr das nicht? Wollt ihr das nicht?“ „Ha, mögen täten wir schon, aber dann sind wir ja gleich schwul.“ Jungen haben cool zu sein, Zärtlichkeit scheint eben heutzutage in eine Jungenfreundschaft nicht hineinzugehören. Ich kann bestätigen, dass es früher so etwas gab – zu meiner Zeit – auch bei mir. Wir hatten den ganz großen Vorteil, dass wir von Homosexualität keine Ahnung hatten, wir wussten ja gar nicht, was das ist. Ein heutiges Kind von elf Jahren kann mich über Masochismus und was weiß ich nicht alles aufklären, das kennt sich besser aus als ich – das ist heute halt so üblich. Sicherlich ist es nicht schlecht, wenn man Bescheid weiß, aber ich bin mir fast sicher, dass dieses Wissen vieles unmöglich macht und verdirbt. (Aus: Lesezeichen – Mitteilungen des Lesezentrums der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Heft 9/2001, S. 9–32)

nepomukJosef Holubs Bücher sind mehrfach ausgezeichnet worden – zurecht, es sind besondere Jugendbücher, auch sprachlich, mit oft herrlichen Wortschöpfungen und ungewöhnlichen Sprachbildern. Sie geben auch beiläufig Einblicke in Zeiten und Lebensumstände, die heute nicht so bekannt sind. In „Der Russländer“ beschreibt er zwei Jungen, die den Russlandfeldzug Napoleons mitmachen müssen und ihn, auch dank ihrer Freundschaft, überleben. Am 7. September 2016 wäre Josef Holub 90 Jahre alt geworden. Er ist 2010 in Grab gestorben, einem kleinen Ort bei Schwäbisch Hall, wo er seit 1974 lebte und wo er auch als ehrenamtlicher Gemeindearchivar tätig war. In Grab spielt seine Geschichte „Bonifaz und der Räuber Knapp“; in ihr hat er eine wahre Begebenheit aus der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgegriffen. Inzwischen sind seine Bücher auch auf tschechisch erschienen und in anderen Sprachen – „Der rote Nepomuk“ wird verglichen mit „Tom Saywer und Huckleberry Finn“.

 Nachtrag

Holub

Gedenkstein Josef Holubs in Nýrsko

Was wurde eigentlich aus Jirschi, dem schönen, eleganten und intelligenten Freund Josefs in „Der rote Nepomuk“, dem eigentlichen Helden der Erzählung, die ja auf den Kindheitserinnerungen Holubs beruht?

„Wir wissen es nicht“, bedauert Karel Velkoborský, Direktor des Museums in  Nýrsko. Man hütet dort nicht nur die verschiedenen Ausgaben der Bücher Holubs (sogar eine chinesische Übersetzung), sondern auch manches, was man erst in den letzten Jahren von ihm, seinem Bruder und seinem Vater fand. Nach dem II. Weltkrieg gab es eine große Umwälzung der Bevölkerung (in Nýrsko etwa betrug der deutsche Anteil vor dem Krieg 95% und ist fast völlig verschwunden), so dass sich manche Spur verlor. „Wir haben uns in Pocinovice (Putzeried) erkundigt, aber niemand konnte uns etwas sagen. Jirschis Vater war dort Arzt, da lassen sich bestimmt noch Spuren finden. Wir werden denen auch nachgehen. Aber bislang hatten wir nicht die Zeit dazu – noch auf andere Schriftsteller aus Nyrsko müssen wir unser Augenmerk richten.“

Jirchsi

Josef und Jirschi auf der Rückseite des Gedenksteines in Nýrsko – dem Cover der tschechischen Ausgabe von „Der rote Nepomuk“ nachempfunden.

Vgl. auch Beitrag „Tod im Fluss“

 

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