Maienknabe
„Maien“ ist ein alter deutscher Begriff für junge grüne Zweige oder Bäumchen. „Schmückt das Fest mit Maien“ heißt es daher in manchen Liedern. Und es wundert auch nicht, dass Mädchen oder Jungen mit „Maien“ verglichen oder sogar bezeichnet wurden. Der „Maienknabe“ begegnet auch in altem Volksbrauch, wenn ein Junge mit Zweigen und Blüten geschmückt wurde, um den Frühling darzustellen. So ritt zur „Maifahrt“, wenn in früheren Jahrhunderten die Ratsaristokratie einen Mairitt unternahm, in der Frühe des ersten grünen Maitages der jüngste Ratsherr mit einem bekränzten schönen Knaben voran. So wurde der „Mai“, der „Wonnemond“, eingeführt und gefeiert.

François Boucher, Der Frühling (Ausschnitt)
Ja der Lenz, der Frühling, selbst erscheint als ein „Knabe, maienschön“, wie Ida Maske-Segalla in ihren „Feldblumen“ (1889) dichtet. Und in einem anderen Gedicht von 1836 heißt es:

Arcadi Mas i Pontevila, Pompeian child
Ein süßer Knabe schwingt auf Zephyrschwingen / Bezaubernd schön im leichten Maienkleide / Durch die Natur; auf grüner Wiesen Seide / Träumt Flora noch ihr wonniges Vollbringen …
War der Winter (nach Matthias Claudius) am Nordpol zuhause (mit einem Chalet in der Schweiz …), so beheimatete man offensichtlich den Frühling im Süden, in Italien.
Jung-junger Knabe, wie wundersam dein Schreiten! / Wie lachen sonnenhell dir Mund und Augen! / Der Anger, glücklich zitternd, küsst den Fuß dir, / Aufblühn‘ der Bäume Knospen, wo du atmest, // Aufblühen, wo du atmest, rings die Knospen, / Glüh’n wie die rotroten Rosen im Maien! / Aufblühen, wo du atmest, rings die Knospen, / Glüh’n wie die rotroten Rosen im Maien!“ So übersetzte Max Steinitzer das italienische Lied „Giovanottino, il bello andar che hai!“

Arthur Prince Spear, boy as shepherd
Und Rhianos’ Ode an die Knaben aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert übertrug Hermann Beckby in die Worte:
„Knaben! Ein Irrlabyrinth ohne rettenden Ausgang! // Wohin du rings auch äugelst, auf Leim haftet dein schweifender Blick. // Sieh, Theodoros lockt hier mit der maienden Blüte des Leibes und einer schwellenden Pracht, die noch kein Makel befleckt. //Dort reizt Philokles dich; ob er klein auch an Wuchs ist, es flimmert strahlend wie goldener Schein himmlische Grazie um ihn …“

Philip de Laszlo, Portrait of his son Paul Leonardo
In Josef Mühlbergers Roman „Das Tal der Träume“ von 1966 lässt sich Frau Dorothee Kessler von zwei Mädchen für ein abendliches Gartenfest in ihrem Haus schmücken. Dabei träumt sie sich zurück und denkt auch an ihren Sohn:
„Wie schön war der Knabe gewesen, von innen heraus schön! Wie ein junger Birnbaum, dessen Rinde glatt ist und den der Mai eben belaubt. Nein, nicht weil er älter geworden war, hatte er sich ihr entfremdet; sein Äußeres hatte sich wenig verändert; aber das Leuchten von innen heraus war erloschen.“ (Josef Mühlberger, Das Tal der Träume – 1966)
Eine kleine Maien-Geschichte ezählte der Übersetzter und Schriftsteller Hans Reisiger in seinem Buch „Junges Grün“. Reisiger war ein Freund von Thomas Mann, wurde von diesem „Reisi-boy“ genannt. 1952 trafen sie sich zuletzt in München. Reisigers Novelle heißt „Der Nikarnalke“ und erzählt von einem Jungen und einem Mädchen – Bruder und Schwester –, die mit einem kleinen Wägelchen fahren, gezogen von einem Ziegenbock. Ein Hund, der um die Ecke fegt, bringt das „Maiengespann“ zum Umstürzen, Knabe und Mädchen stürzten im Bogen heraus:

William Stephen Coleman,boy as goatherd
„Da lag der schöne Junge im Staub. Sein Gesicht war bleich und die Haare an der linken Schläfe voll Blut.“ Ein sehr dicker Mann, dem der Hund gehört, kümmert sich gleich um den Jungen – sehr gekonnt, wie sich zeigt. „Noch während der ärztlichen Behandlung öffnete der Knabe die Augen, lächelte, öffnete die Lippen, und ein rosiger Blutstrom stieg in seine Wangen. Dies sah der dicke Helfer mit Lust. Ein wonniglicher Kitzel machte sich in seinem mächtig gewölbten Busen fühlbar. Er öffnete die Augen hinter den Gläsern weit und sog das Ereignis ein. Er sah, wie die langen, dunklen Wimpern zuerst leise zuckten, dann sich langsam wie Schmetterlingsgefieder hoben und das dunkelblaue Licht der Augen freigaben. Er sah das Beben der feinen braunen Nasenflügel, die leichte Regung der reinen, rothen Lippen, und plötzlich im Lächeln einen weißen Blitz der Zähne. Er sah das Blut hell durch die Honighaut der Wangen scheinen, – er sah den Atem in die Brust eingehen und sie heben, und fühlte sich wie ein Abgesandter Gottes, beauftragt und mit paradiesischer Macht ausgestattet, Odem einzublasen.“ – Doch der Knabe scheint es ihm nicht zu danken; er sieht den Dicken an und sagt „mit einem unverhüllten Kräuseln des Ekels auf den Lippen: ‘Sie essen wohl sehr viel Fleisch und trinken Bier?‘“

Charles-Alexis Apoil, Portrait of an Artist and his Son
Der Dicke kehrt wenig später nach dem Unfall in ein Gasthaus ein – und gerät dort nach seinem Essen mit einem Mann in Streit, der ihm im Grunde dasselbe vorwirft wie der Junge: Er ernähre sich falsch: Nikotin, Fleisch und Alkohol seien ein einziges Gift für den Menschen.
„Aber da öffnete sich plötzlich die Tür, helle, junge Stimmen erklangen laut, und Mailicht strahlte in den Raum. Im grünen Schein, der von draußen kam, stand der Knabe und das Mädchen, die das Bocksgespann gelenkt hatten und mit ihm umgeschlagen waren. Ein Meckerlaut klang von draußen. Der Knabe trug noch die Binde um die Stirn, die der Dicke ihm angelegt hatte. Die Augenpaare der Beiden leuchteten.“ Es sind die Kinder des Mannes, der sich mit dem Dicken angelegt hatte und von der Junge seine Einstellung hat. Aber:
Jules-Evariste van Biesbroeck, Glücklich
Lachend und lieblich trat der Knabe näher. Seine dunkelblauen, strahlenden Augen wandten sich in dem braunen Gesicht, in das die Honiglocken fielen, dem dicken Herrn gegenüber zu. Er stockte, hob anmutig die rechte Hand an die Brust und rief dann: „O dio! Inge! Das ist ja unser Retter!“ — Und fröhlich, ohne Scheu, voll jugendlich-freier Liebenswürdigkeit sprang er quer durch das Zimmer auf den Dicken zu. Gleichwie zuvor, als er den Knaben verband und er die Augen wieder aufschlug, so hüpfte ihm jetzt das eben noch so gekränkte Fettherz im Busen, so wohlig es nur konnte … lieblich und kräftig füllte ihn der Anblick des schönen Jungen ganz, der so zutraulich und frei zu ihm kam. Fast schämte er sich jetzt der fettigen Speisereste, die auf dem Tische standen, … irgendwie paßten sie nicht zu der Reinheit dieses jungen Körpers, – und fast schämte er sich auch dessen, daß er sich vollgegessen fühlte, und hier so plump und schwer saß vor der behenden Anmut.
Der Knabe erinnert sich seines frechen Worts von vorhin:
„Sind Sie uns noch böse?“ fragte er mit einem kleinen Ernst, der gleich wieder in Lächeln verging. Die goldene Brille funkelte. „Nein, nein, du Strick“, sagte der Dicke und zog den Knaben zu sich, der sich zutraulich an ihn lehnte, so daß seine schlanken, bloßen Knie seine dicken runden berührten. „Wie sollte man dir böse sein.“ Aber der Junge erklärt dem Dicken, was er von seinem Vater gelernt hat: „Da!“ rief er eifrig mit dem Finger auf die dicke, schwarze Brasil zeigend, die schon neben dem Teller bereit lag, „das ist doch Nikotin? Nicht?! und das da Fleisch – carnis -, nicht? Und das da Alkohol! – Wissen sie es jetzt? ?!“ Er spreizte beide Hände. „Nik — carn – alke!“ rief er noch einmal laut wie ein Schulkind, das buchstabiert, dann lachten beide wieder fröhlich, der Dicke fiel schokkelnd ein, und auch Schnapp gab ein munteres Kläffen dazu, indem er für einen Augenblick seine Beschäftigung, die bloßen Beine der Kinder zu beschnuppen, unterbrach. (Hans Reisiger, Der Nikarnalke) –
Und auch das passt noch in den „Wonnemond“; Der Arzt und Schriftsteller Hans Carossa hielt sich im Frühling 1913 in Italien auf und notierte am 14. Mai in sein Tagebuch: „Wunderbare Abendkühle. Die dunkeln ersten Steineichen blühen. Die Sonne geht unter, der Mond gewinnt Macht. Ein Knabe, so schön, daß man fast erschrickt, ruft einem andern Addio zu mit einer Handbewegung so leicht und vornehm, wie wir es in Deutschland nicht leicht sehen.“