Tod im Fluss
Wie Josef Holub war auch Josef Mühlberger ein Schriftsteller aus der Tschechoslowakei, der später nach Deutschland emigrierte. Und wie Holub befasste er sich auch – neben vielen anderen Themen – mit den seelischen Befindlichkeiten Jugendlicher. 1934, in einer auch für seine Heimat sich bedrohlich entwickelnden Zeit, erschien seine vielleicht bekannteste Erzählung „Die Knaben und der Fluss“. Sie handelt von zwei Freunden, die in einem mährischen Dorf aufwachsen. „Eine Freundschaft wie die der beiden Knaben Waschek und Jenjik ist selten im Dorfe, selten in der Landschaft.“ Sie sind beide zu Beginn der Erzählung etwa 14 Jahre alt, Bauernsöhne, helfen zuhause mit, verbringen aber ansonsten die meiste Zeit miteinander. „Seit ihrer Kindheit war kein Tag vergangen, an dem die beiden Knaben sich nicht getroffen hätten. Sie besuchten dieselbe Schulklasse, und saßen alle Jahre auf einer Bank. Sie verbrachten alle Zeit gemeinsam; sie lernten und spielten zusammen. Sie aßen oft gemeinsam und dann am liebsten aus derselben Schüssel; sie schliefen zuweilen miteinander, besonders im Winter, wenn Waschek Jenjik besucht hatte. Mußte Jenjik auf dem Hof arbeiten, half ihm Waschek.“
Waschek wird als „breit und kräftig“, „mit gelbbraunem Gesicht und schwarzem Haar“ beschrieben, in seinem Wesen als temperamentvoll, in seinen Handlungen als impulsiv, beinahe unüberlegt, charakterisiert. Jenjik als „groß gewachsen und blond, schon als Kind ruhig, verschlossen und besonnen“, der fast niemals lachte.

Nikolay Petrovich Bogdanov-Belsky, Jungen vom Land, 1916 (Ausschnitt)
Aber das Paradies ist bedroht: Waschek soll nach den Sommerferien in die Stadt Nowa Wes zu einem Bauern, um dort zu wohnen und die Forstschule zu besuchen. Die Vertrautheit zwischen den beiden wird auch gestört durch das hübsche Mädchen Jarmila, in das sich Waschek verliebt. Doch bald schon scheinen die Störungen vorbei – auch Jenjik muss in die Stadt – auf die Ackerbauschule – und beide wohnen bei demselben Bauern. Wasser gibt es auch hier – es ist ein großer schwarzer Fluß, zu dem sie oft gehen. Ihre Gemeinsamkeiten nehmen eine neue Wendung: Sie interessieren sich für Literatur und beginnen zu musizieren. Es ist wie in einem neuen Paradies: Wenn Waschek seinen Jenjik einen Tag lang nicht sieht, ist er unglücklich. Einmal, abends, legt er seinen Arm um Jenjik und sagt: „Nicht wahr, Janouschku, hier ist es viel schöner als zu Hause.“

Nikolay Petrovich Bogdanov-Belsky, Geigenspiel (1897)
Und noch eines ist ihnen gemeinsam: die Zuneigung zu Wjera, der Tochter des Bauern, bei dem sie wohnen. In den Ferien ist sie von Brünn nach Hause gekommen. Im Ostergottesdienst haben beide erstmals die Gelegenheit, sie aus der Nähe zu betrachten. Und beide verlieben sich mit der Zeit in sie. Vor allem Jenjik sucht immer häufiger ihre Nähe. Waschek spürt dies und ist darüber traurig: „Sie hat Jenjik lieber; sie hat nur Jenjik lieb. Er ist kein richtiger Freund mehr. Nein, diese ganze Freundschaft ist längst zu Ende gegangen. Er verstellt sich und ist falsch.“ Er spricht mit Jenjik darüber, dass ihre schöne Freundschaft zerstört ist, und schlägt vor, dass beide von Wjera ablassen. Sie versprechen es sich – doch bald schon ist es Waschek selbst, der das Versprechen bricht; schluchzend berichtet er es dem Freund. So kommen sie überein, Wjera selbst entscheiden zu lassen, wer von beiden sie lieben darf. „Wir … geben ihr zwei Briefumschläge. In dem einen steht auf einem Zettel dein Name, auf dem anderen mein Name. Wir werden sie auffordern, einen Briefumschlag an der Kerze zu verbrennen. Wer übrig bleibt, der soll sie behalten.“
So geschieht es an einem Sonntagmorgen. Und in der Kirche, nach der Wandlung der Messe, öffnen sie den Brief. „’Wer übrig bleibt, soll sie behalten …’: Wascheks Name stand darauf.“ Am Nachmittag sucht Jenjik seinen Freund und findet ihn nicht – dafür aber einen Zettel auf dem Tisch mit den Worten: „Janouschku, Du sollst glücklich sein mit Wjera, ich habe euch den Weg frei gemacht.“

Nikolay Petrovich Bogdanov-Belsky, Der Stiefsohn des Künstlers
Der Freitod des Freundes im Fluss stürzt Jenjik in Verzweiflung, doch setzt sich die Verwirrung in gedankliche und emotionale Reife um. „Am Ende der seelischen Verarbeitung tritt Klärung ein, die mystischen Gründe des Daseins haben in ihm eine Klärung zum Sicheren, Festen eingeleitet.“ Das Dichterische in Jenjiks Charakteranlage hat sich gefestigt und bringt die Kraft für die ernsten Dinge des Kommenden, schreibt Michael Berger in einem Aufsatz zu Mühlbergers Erzählung (in: „brücken. Germanistisches Tschechien Slowakei“ von 1986).
Hermann Hesse, der subtile Kenner der verwirrenden adoleszenten Gefühle, schätzte diese Erzählung, die leider nie verfilmt wurde, sehr. Sie ist motivisch und kompositorisch sehr durchdacht. 2003 wurde sie zum hundertsten Geburtstag von Josef Müllberger im Insel-Verlag neu aufgelegt, mit einem Nachwort von Peter Härtling. Sie ist in ihrer Thematik zeitlos: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Johannes 15,13). Auch wenn diese Lebenshingabe aus pubertärer Verwirrung heraus geschieht? Für Waschek war die Freundschaft zu Jenjik von ganz hohem Wert. Ihn glücklich zu wissen, war ihm das Höchste. So kann das „thematisch nur scheinbar idyllische und zarte, eher aber vom dunklen Kampf jugendlicher Leidenschaften und Verwirrungen erfüllte Werk als der poetisch-weltanschauliche Ansatz für ein schriftstellerisches Credo gelten, das weit über das Provinzielle … hinausweist, indem es auf Schönheit als Ausdruck des Sittlichen zielt“ (Michael Berger).
Vgl. auch Beitrag: Josef und seine Freunde