Übergang

Der Junge im Roman des Literatur-Nobelpreisträgers J. M. Coetzee wird nur selten mit richtigem Namen genannt, nur beiläufig erfährt man, dass er John heißt, wie sein Autor. Tatsächlich handelt es sich bei dem Buch „Der Junge“ (Original: Boyhood) um eine stark autobiographisch gefärbte Darstellung des Aufwachsens Coetzees – etwa zwischen dem 10. und 13. Lebensjahr – in einer englischsprachigen Familie in südafrikanischen Worcester, rund 100 Kilometer von Kapstadt entfernt. Der Junge beobachtet, registriert und macht sich Gedanken über seine Eltern, die Mitschüler, das Cricketspiel, das Leben auf der Farm seines Großvaters; er denkt nach über Weiße, Afrikaans und Farbige. Er ist klug, in der Schule der Klassenbeste. Vor allem beobachtet er sich selbst und stellt beunruhigende Dinge fest – sogar in banalen Dingen wie der Kleidung:

Er mag lieber enge Shorts als weite Shorts. Die Sachen, die ihm seine Mutter kauft, sind immer zu weit. Er schaut sich gern schlanke, glatte braune Beine in engen Shorts an. Am liebsten mag der die honigbrauenen Beine von blonden Jungen. Es überrascht ihn, als er feststellt, dass die hübschesten Jungen in der Afrikaanerklasse zu finden sind … Afrikaanerkinder sind wie farbige Kinder, findet er, unverdorben und leichtfertig, ungezügelt, und dann, in einem gewissen Alter, verderben sie, und ihre Schönheit stirbt mit ihnen.

Emile Friant, La Lutte (Der Ringkampf), 1889

Die Gefühle, die die Beine dieser Jungen in ihm erzeugen, beunruhigen ihn. Er spürt in sich Schönheit und Begierde. Ähnlich beunruhigen ihn die nackten griechischen Skulpturen in der „Enzyklopädie für Kinder“:

Laurent-Honore Marqueste, Eros, 1903

Es geht um die Gestalt, um vollkomene Gestalt. Er hat eine Vorstellung vom menschlichen Körper. Wenn er diese Vollkomenheit im weißem Marmor verkörpert sieht, erschauert er; ein Abrund tut sich auf; er ist nahe daran zu fallen. Von allen Geheimnissen, die ihn von anderen trennen, ist das vielleicht das schlimmste. Unter all den Jungen ist er der einzige, in dem dieser dunkle erotische Stom fließt; mitten in der Unschuld und Normalität ist er der einzige, der Begierde fühlt.

Einmal geht er mit seiner Mutter über ein Stück Gemeindeland. Zufällig kommt ihnen ein Junge seines Alters entgegen, der ihm auffällt:

An dem Jungen ist nichts Ungewöhnliches. Er ist farbig, aber Farbige sind überall. Er trägt Hosen, so kurz, dass sie über seinen hübschen Po spannen und seine schlanken, lehmbraunen Schenkel fast nackt lassen. […] Er hätte gern auch so schöne Beine. Mit solchen Beinen würde er über die Erde hinschweben wie dieser Junge, sie kaum berührend. Der Körper dieses Jungen ist vollkomen und unverdorben, als sei er erst gestern aus dem Ei geschlüpft.

Und sofort gehen ihm wieder Gedanken durch den Kopf: „Schönheit ist Unschuld; Unschuld ist Unwissenheit; Unwissenheit ist Unwissenheit in Fragen der Lust; Lust ist schuldig; er ist schuldig. Dieser Junge mit seinem frischen, unberührten Körper ist unschuldig, während er, beherrscht von seinen dunklen Begierden, schuldig ist.“

Theodore Chassierau, Le jeune endormi

 

Coetzee gelingt es auf beeindruckende Weise, in diesem Roman wie nebenbei den Umbruch im Leben eines jungen Menschen darzustellen: das Verlassen eines geborgenen Raums der kindlichen Unschuld und der Übergang in eine neue Lebensphase, in der sich Räume öffnen, die noch nicht in ihrer Tiefendimension übeschaubar sind. Sie machen Angst und verlocken zugleich.

Arnold Böcklin, Die Klage des Hirten (Amaryllis), 1866

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