Erscheinung in der Camargue

Von Claudius Aelianus (um 200) stammt eine berühmte Geschichte, die von der Liebe eines Delphins zu einem Knaben handelt. Dieses Tier schwamm oft in der Nähe des Strande von Iassos und lehrte den Jungen mit der Zeit, mit ihm zu schwimmen, ja auf ihm durch die Wellen zu reiten wie auf einem Pferd. Glücklich und stolz waren beide. Doch eines Tages stach sich der Knabe mit seinem Nabel an der Rückenflosse des Delphins. Er verblutete, während er auf dem Delphin lag. Das Tier spürte dies und trug den Körper des toten Jungen an den Strand, um dort ebenfalls sein Leben auszuhauchen.

George Xenoulis, Der Knabe auf dem Delphin (by Vagelis Vlahos)

In Iassos, wo die Geschichte spielt, erkannten die Menschen die große Liebe der beiden zueinander, man begrub sie, ließ Münzen zu ihrem Gedenken prägen und eine Stele errichten. (Aelianus, De natura animalium. – Eine ähnliche Erzählung überliefert uns Plinius der Jüngere.) Die Geschichte von dem „Knaben auf dem Delphin“ wurde auch auf Statuen, Mosaiken und Bildern dargestellt.

Und um eine solche Statue, die im Meer von einer Taucherin gefunden wird, dreht sich wiederum ein Film mit Sophia Loren aus dem Jahre 1957:  „Der Knabe auf dem Delphin“. Auf der Insel Hydra, wo er spielt, hat man dem Film und seinem Sujet ein Denkmal gesetzt.

Um einen Film soll es auch in diesem Beitrag gehen, allerdings um einen anderen. Denn wie eine moderne Version, ein Gegenstück zu dieser alten Erzählung wirkt der französische Film „Crin blanc“, der 1952 erschienen ist und hohe Auszeichnungen erhielt (u. a. eine „Goldene Palme“ in Cannes). 1953 kam er auch in die deutschen Kinos („Der weiße Hengst“).

Der Film spielt in der Camarque, dort, wo sich die Rhône mit dem Meer vereint. In dieser wilden und schönen Region leben viele Wildpferde, und der weiße Hengst „Crin blanc“ ist der Anführer einer Gruppe von Pferden. Auf ihn haben es die Pferdezüchter und -hüter (Gardiens) abgesehen, aber trotz vieler Mühen es gelingt ihnen nicht, das wilde Pferd zu bändigen. Einzig dem kleinen Fischerjungen Folco, der die Versuche aus der Ferne und Nähe immer wieder zu Sehen bekommt, gelingt es, das Vertrauen des Pferdes zu gewinnen. Mit der Zeit schafft er es, sich mit Crin blanc anzufreunden und auf ihm zu reiten. Da versuchen es die Pferdezüchter noch einmal, das schöne Pferd für sich zu fangen. Auf der Flucht vor ihnen reiten Folco und Crin blanc in das Meer und verschwinden in den Wellen – um in einer besseren Welt, in der es nur Pferde und Kinder gibt, weiterzuleben …

Der damals elfjährige Alain Emery aus Marseille spielt die Rolle des kleinen Fischerjungen Folco in dem Schwarzweiß-Film von Albert Lamorisse, der durch seine Ruhe und die Darstellung der Landschaft einen besonderen Eindruck macht.

Die deutsch-amerikanische Schauspielerin und  Schriftstellerin Ruth Landshoff-Yorck veröffentlichte 1953 eine kleine, weithin unbekannte Erzählung, die diesen Film, genauer gesagt: seine Dreharbeiten, zum Inhalt hat: „Illusion in der Camargue“. Der Amerikaner Montgreef, Freund des Regisseurs, der in der Erzählung Amorice heißt, besucht die Filmcrew bei den Dreharbeiten. Als das Boot, das ihn zum Drehort bringt, anlandet, sieht er die Männer mit ihren Pferden stehen, „und ein wenig abseits, den rechten Arm über seinem niedrigen Reittier, stand der wunderschöne Junge“.

Er stand da, klein und dünn, in einem zerfetzten blassgelben Hemd und enganliegenden halblangen Hosen. Seine Füße waren nackt. Sein Gesicht, teilweise verdeckt von seinem glatten Haar, das der Wind ihm verspielt über Stirn und Wangen blies, war rund und schön wie eine sonnengereifte Frucht. Die länglichen Augen standen weit auseinander im Schatten der Wimpern.

Montgreef kommt sich vor wie zu Besuch bei einer Erscheinung – und er muss an ein Bild von Picasso denken, Knabe mit Pferd. Immer wieder muss er diesen Jungen ansehen, dessen Verliebtheit in das weiße Pferd ihm nicht verborgen bleibt. Er wendet sich an den Regisseur:

„Wie haben Sie ihn gefunden?“ fragte Montgreef. – „Durch eine Annonce. In Marseille.“ – Das wunderte Montgreef. War das die übliche Methode, um heutzutage vollkommene Schönheit zu entdecken? – „Wie haben Sie denn das Inserat aufgesetzt? Wir suchen atemberaubend schönen Jungen? Ohne Fehler? Mutig und sanft?“ – „Nein. Einfach. Junge, der Pferde gern hat. 400 meldeten sich. Wir haben Alain gewählt. Und haben etwas gewartet, bis sein Haar länger war. Er kommt von ganz kleinen Leuten. Er ist eifrig und fleißig.“

Nur schwimmen kann er nicht, obwohl er aus Marseille stammt – und auch das Reiten hat er erst vor den Dreharbeiten gelernt, aber inzwischen reitet er so, als ob er es schon immer getan hätte …

Rudolf Koller, Junge auf einem Schimmel (1872)

„Gefällt Ihnen die Geschichte?“ Amorice erhob sich. Seine Stimme klang besorgt. „Ja,“ sagte Montgreef, „das kann herrlich werden. Vor allem, wenn der Film die unerhörte Schönheit der einsamen Sumpfebene zeigt. Die Schönheit der Pferde, der Stiere, der Wasservögel, und die unerhörte Schönheit des Jungen.“

Er kann ihn nur immer wieder ansehen: „In jedem Augenblick, in jeder Stellung, in Ruhe und in Bewegung war er unglaublich schön, und hatte keine Ahnung davon.“ Er fragt den Regisseur, ob die Geschichte in unserer Zeit spielt: „Ich meine, weil doch der Junge so merkwürdig angezogen ist und weil er so überirdisch schön ist.“ – Ja, bestätigt Amorice, der Film spiele außerhalb der Zeit: „Die Epoche ist Empfindsamkeit, Poesie.“

Joaquin Sorolla, Washing the horse (1909)

An diesem Drehtag soll es um den Schluss des Filmes gehen, wo die „Gardiens“ den Jungen und Crin blanc immer weiter hinaus zum Meer treiben, so die beiden schließlich in den Wellen untergehen. Aber es ist schwieriger als gedacht. Die Wellen werden zu hoch und plötzlich gleitet der Junge vom Rücken des Pferdes. Auch Montgreef springt vom Boot ins Wasser, um Alain, der nicht schwimmen kann, zu retten. Aber ist nicht zu finden. „Schließlich gab ein heiserer Schrei von Sellier dem schwimmenden Montgreef die Richtung an. Er tauchte und kam mit der leichten Last herauf. Ich habe Schönheit gerettet, dachte Montgreef, aber nicht vom Tode. Mit geschlossenen Augen in seiner ganzen Länge auf dem Schwimmer liegend, von einem starken Arm gehalten, schien der Junge ganz zufrieden. Sein feuchter Mund lächtelte.“

****

Ein Nachtrag noch zu Ruth Landshoff-York:

Vielleicht kommt es nicht von ungefähr, dass die Tänzerin, Journalistin, Schauspielerin, Lyrikerin und Roman-Autorin einen Blick für den schönen Jungen hatte und sie in ihrer Erzählung dem Amerikaner Montgreef in die Augen legte. Sie galt in den 1920er Jahren als eine Art It-girl, weil sie sich nicht um Konventionen scherte, sondern das lebte, was ihr gefiel – auch mit Männern und Frauen. Der freche Bubikopf war eine Attraktion ihrer Zeit. Der Publizist und Diplomat Harry Graf Kessler schrieb 1926 über die gerade Zweiundzwanzigjährige in seinem Tagebuch: „Im Smoking sehr hübsch, wie ein Junge aussehend, was sie noch durch eine Hornbrille unterstrich und aufgeschminkte Andeutung schwarzen Bartflaums.“ Und: „Die kleine Landshoff, die wirklich wie ein bildschöner Junge aussieht, tanzte mit der [Josephine] Baker moderne Jazztänze zum Grammophon.“ 

 

Auch nach dem Krieg behält Ruth Landshoff-Yorck ihren unangepassten Lebensstil bei, verkehrt – ein No-go in dieser Zeit, zumal für Frauen – in Schwulen-Clubs, schreibt Stücke über Rassismus und Homophobie – und bricht literarisch eine Lanze für die vollkommene Schönheit eines Zwölfjährigen.

 

 

Das könnte dich auch interessieren …